Lilith Parker
habe.«
Nachdem sie gemeinsam mit Arthur die Kartons auf das Podium gebracht und ausgepackt hatte, herrschte im Rathaussaal lautstarkes Stimmengewirr. Es war nun so voll, dass Lilith einen Moment lang auf dem Podium stehen blieb, um nach einem bekannten Gesicht Ausschau zu halten. Wo war nur ihre Tante abgeblieben? In der Zwischenzeit musste sicherlich auch Emma eingetroffen sein.
Unter der Decke schwebte die weiÃe Frau in unruhigen Bahnen umher und stieà ein leises Wimmern aus, als ob es ihr körperliche Schmerzen bereiten würde, sich in einem geschlossenen Raum aufzuhalten. Einige der Anwesenden kannte Lilith vom groÃen Halloweenspektakel, auch wenn es ungewohnt war, sie in ihrer Zivilkleidung zu sehen. Wie sie mittlerweile wusste, wirkten die meisten Nocturi wie ganz normale Menschen und ihre übernatürlichen Fähigkeiten offenbarten sich nicht auf den ersten Blick.
In der Nähe der Tür entdeckte Lilith die hochgewachsene Gestalt von Miss Tinkelton, die einige Lehrer um sich geschart hatte. Gerade redete die Direktorin mit ernstem Gesichtsausdruck und blitzenden roten Augen auf ihre unglücklich dreinblickenden Untergebenen ein. Lilith vermutete, dass Miss Tinkelton die Gelegenheit nutzte und einen Vortrag über die mangelnde Strenge gegenüber der Schülerschaft hielt. Direkt daneben stand Madame Sabatier, die Lilith in der Crepusculane kennengelernt hatte. Als die Giftmischerin ihren Blick auffing, winkte sie Lilith mit einem erfreuten Lächeln zu.
Endlich entdeckte Lilith ihre Tante neben einem Mann mittleren Alters, den sie schon einmal im Restaurant »Frankenstein« gesehen hatte, als sie Mildred bei der Arbeit besucht hatte. Wenn sie sich richtig erinnerte, hieà er Louis Lambert. Damals hatte er nicht ganz so attraktiv und jugendlich gewirkt wie heute Abend, auch wenn dies seiner stattlichen Erscheinung und seinem vornehmen Auftreten keinen Abbruch getan hatte. Lilith tippte darauf, dass er ein Vampir war. Gerade strahlte Mildred ihn mit groÃen Augen an und spielte mit einer Strähne ihrer blonden Haare. Täuschte Lilith sich oder flirtete Mildred gerade mit ihm?
Plötzlich spürte sie einen unangenehm feuchten Luftzug in ihrem Nacken und fuhr herum.
»Probst du schon, wie der Anblick von hier oben ist, sobald du als Führerin der Nocturi die Leitung der Versammlungen übernimmst?«
Zachary Scrope maà sie mit einem Lächeln, das nur oberflächlich betrachtet freundlich wirkte. Seine Kiefer- und Wangenknochen waren unter einer dicken Fettschicht verdeckt, sodass sein Gesicht auÃergewöhnlich formlos wirkte. Ãber seine hohe Stirn hatte er sorgfältig die letzten ihm verbliebenen Haarsträhnen geklebt und die Jacke seines Jacketts war durch seine enorme Leibesfülle so gespannt, dass der Knopf jeden Moment abzuspringen drohte. Auf seinem Revers blitzte eine Reihe goldener Anstecknadeln: Bürgermeister von Bonesdale, Vorstand der Gilde der Halloweenakteure, Meister der englischen Nachtmahrvereinigung und stellvertretender Führer der Nocturi.
Scropes kleine tief liegenden Augen blieben auf LilithsBernstein-Amulett hängen, das ihr beim Auspacken der Kartons über das Shirt gerutscht sein musste. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein Ausdruck von Missbilligung über sein verschwitztes Gesicht.
»Nein, ich stehe aus einem ganz anderen Grund hier oben«, wehrte sie seinen versteckten Vorwurf hastig ab. »Es sind so unglaublich viele Leute im Saal und ich wollte nur nach meiner Tante â¦Â«
»Du musst dich nicht vor mir verteidigen«, unterbrach er sie in zuckersüÃem Tonfall. »Jedenfalls heute noch nicht.«
Es dauerte einen Moment, ehe sie Scropes Worte begriff, doch dann erblasste sie unwillkürlich: Er spielte auf die Gerichtsverhandlung an, bei der er einer der vier Richter sein würde.
»Es freut mich, dass du heute Abend gekommen bist. Ich hatte schon die Befürchtung, dass du wegen der Vorladung des Rats unserer Versammlung fernbleibst. All die verurteilenden Blicke machen es für dich sicherlich nicht leichter, wahrscheinlich kommst du dir wie eine Schwerverbrecherin vor.«
Lilith spürte einen bitteren Kloà im Hals. Hatte sie deswegen das Gefühl gehabt, angestarrt zu werden? Hielten die Leute sie für eine Gesetzesbrecherin? Nervös zuckten ihre Augen über die Menge. Einige Anwesende wandten peinlich berührt den Kopf ab, doch in den
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