Liliths Kinder
Mutter der Vampire Mayabs war! Daß ihr Hoher Vater vor einiger Zeit jene Frau namens Nona in die Hermetische Stadt geschickt hatte, um die Kelchkinder dort auf Liliths Ankunft vorzubereiten, damit sie die Lüge bestätigten.
Aber Chiquel hatte geschwiegen. Weil er den Zorn des Vaters fürchtete.
Denn es mochte sein, daß Lilith ihn beim nächsten Mal nicht mehr davor bewahren konnte, wie sie es nun schon zweimal getan hatte.
Vor dem magischen Spiegel blieb Chiquel stehen. Die Fläche, die nur wie glattgeschliffen aussah, aber nicht aus Glas bestand, zeigte ihm die Spuren, die Vaters Zorn an ihm hinterlassen hatte - und die nie mehr zur Gänze verschwinden würden.
Bis vor kurzem war Chiquel von fast mädchenhafter Schönheit gewesen. Heute war sein Leib entstellt und von Wunden bedeckt, die ewig Narben bleiben würden.
Dieser Spiegel ... Chiquel wußte, daß die magische Fläche nur Totes reflektierte. Ihn und seine Geschwister. Mobiliar. Die steinernen Wände.
Nicht aber Lilith .
Diese Erkenntnis hatte sie irritiert, aber Chiquel hatte ihr den Grund nicht genannt.
Wie er ihr so vieles verschwieg .
Auch seinen Verdacht, daß die anderen Kinder des Kelches etwas gegen sie im Schilde führten.
Daß sie sich früher oder später über das Verbot ihrer »Mutter« hinwegsetzen würden, fortan die Menschen nicht mehr heimzusuchen, war Chiquel klar gewesen. Dafür brachte er noch ein gewisses Verständnis auf, denn auch ihm vermochte das gespendete Elixier nicht das zu geben, wonach ihm verlangte.
Aber irgend etwas, ein Instinkt vielleicht, verriet Chiquel, daß da noch etwas anderes im Gange war. Etwas von sehr viel größerem Ausmaß - - das sich zur Katastrophe ausweiten konnte ...
Alarmiert hielt er plötzlich inne.
Etwas hatte sein Ohr erreicht. Wie aus weiter Ferne zwar, aber doch so deutlich zu vernehmen, daß es ihn unweigerlich beunruhigte.
Da war es wieder! Etwas wie ein Schrei draußen in der Nacht, und Stimmen, ganz leise nur.
Chiquel trat ans Fenster seines Gemachs. Vom Palast aus ließ sich ganz Mayab überblicken. Viele tausend Male hatte er dieses Bild schon gesehen.
Heute jedoch schien irgend etwas anders daran, ohne daß er auf Anhieb zu sagen gewußt hätte, was es war.
Natürlich, da waren die Schreie und Stimmen. Ungewöhnlich genug, denn bislang hatte die Nacht stets völlige Stille über Mayab gebracht. Weil jeder Ton die Aufmerksamkeit der Herrscher erregen konnte - und das wiederum konnte den Tod zur Folge haben.
Aber noch etwas war anders heute. Als läge etwas in der Luft - ein eigentümlicher Hauch, den Chiquel nicht näher zu beschreiben vermochte, der ihn aber in einem Maße beunruhigte, wie er es nie zuvor erfahren hatte.
Es gab nur einen Weg, es herauszufinden.
Vielfach ungelenker als früher erklomm Chiquel die Fensterbrüstung. Die Metamorphose dauerte länger als einst. Und die Flügelschläge, mit denen er sich in die Nacht hinausschwang, kosteten ihn sichtlich größere Anstrengung als zu jener Zeit, da er noch unversehrt wie seine Geschwister gewesen war.
Mutter, verzeih mir! ging es ihm durch den faustgroßen Schädel, während er den Hütten Mayabs zustrebte.
Aber vielleicht widersetze ich mich deinem Verbot ja zu deinem Besten
*
Von allen Seiten her kamen sie aus der Dunkelheit, strebten der freien Fläche inmitten der Hütten zu, als würden sie von einer geheimen Kraft angezogen.
Diese Kraft mochten der Schmerz und das Leid sein, die viele der Menschen heute Nacht hatten erfahren müssen. Und das Schluchzen und Weinen der betroffenen Männer und Frauen lockte auch jene aus ihren Betten, die verschont geblieben waren -- vor ihr!
Es war keiner unter den Versammelten, der recht glauben mochte, was da an grausamen Geschichten die Runde machte: daß Lilith, die sich ihnen gegenüber seit ihrer Ankunft vor Tagen wohlwollend gezeigt hatte und sich offenbar doch grundlegend unterschied von den Tyrannen, in Wirklichkeit von noch viel schlimmerem Schlages sein sollte. Ihr wahres Gesicht habe sie heute Nacht gezeigt, hieß es.
Es waren viele, die nur glauben wollten, was sie mit eigenen Augen sahen. So blickten sie hinein in jene Hütten, die Lilith in den Stunden zuvor heimgesucht hatte - - und wandten sich ab, voller Entsetzen, überzeugt von dem, was die anderen erzählt hatten.
»Was sollen wir tun?« war die am häufigsten gestellte Frage auf dem Platz, wo sich nunmehr fast alle Einwohner Mayabs zusammengefunden hatten.
Zerbrochene Hoffnung lag wie ein
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