Linda Lael Miller
sie lag im Safe des Krankenhauses – aber ein zweiter
Hausschlüssel war im Holzschuppen versteckt.
Sie ging
los, doch bald wurde ihr klar, daß sie einfach zu schwach war, um den ganzen
Weg nach Hause zu gehen. Mit einem Stoßgebet, nicht gerade auf einen Serienmörder
zu treffen, hielt sie den Daumen hoch.
Kurz darauf
stoppte ein klappernder, alter Pickup mit einer fehlenden Stoßstange neben ihr.
Ein junger Mann beugte sich über die Vordersitze und stieß die Tür auf. Sein
Lächeln war ausgesprochen herzlich.
»Ist Ihr
Wagen liegengeblieben?« fragte er.
Sie nickte,
weil sie nicht erklären wollte, daß sie aus dem Krankenhaus geflohen war, und
kletterte in den Wagen. Allein diese Anstrengung erschöpfte sie so, daß sie
gegen die Lehne des zerschlissenen, alten Sitzes sackte und fürchtete,
ohnmächtig zu werden.
»Hey!« Der
Mann rammte den Gang rein und trat schwungvoll aufs Gas. »Sind Sie vielleicht
krank? Gleich dahinten ist ein Krankenhaus.« Er deutete mit dem Daumen über
seine Schulter.
Elisabeth
schüttelte den Kopf. »Es geht mir gut«, brachte sie hervor und konnte sogar
lächeln. »Ich wohne in der
Schoolhouse Road.«
Der junge
Mann betrachtete sie interessiert. »Sie meinen doch nicht dieses Spukhaus
gegenüber von den Buzbees, oder?«
Elisabeth überlegte,
ob sie lachen oder weinen sollte, und entschloß sich für ersteres, um ihren
Retter nicht zu alarmieren. »Aber sicher doch.«
Er stieß
einen Ruf aus. »Jemals irgendeinen Spuk gesehen?«
Sie fuhren
durch das Zentrum der Stadt, und Elisabeth verspürte einen Stich, als sie die
erleuchteten Schaufenster und Schilder sah. Sie hoffte, bald zurück bei
Jonathan zu sein, und wenn das passierte, würde die moderne Welt nur noch eine
Erinnerung bleiben. Sofern etwas, das noch gar nicht existierte, überhaupt eine
Erinnerung genannt werden konnte.
»Nein«,
sagte sie und schob ihre Haare zurück. »Ich glaube nicht an Geister. Es gibt
eine wissenschaftliche Erklärung für alles. Wir verstehen nur viele Naturgesetze
nicht.«
»Dann haben
Sie nie nichts Verdächtiges gesehen, hä?«
Als
Lehrerin zuckte sie bei seiner Grammatik zusammen. »Ich habe Dinge gesehen,
die ich nicht erklären kann«, räumte sie ein. Soviel war sie ihm wohl schuldig,
wenn er sie schon heimbrachte.
»Was denn?«
»Einfach –
Dinge. Schatten. Wie wenn man etwas aus den Augenwinkeln sieht und sich fragt,
was man denn wirklich gesehen hat.«
Der Mann
schüttelte den Kopf, als er in ihre Einfahrt bog.
»Danke.«
Sie öffnete die Tür und stieg aus. Ihre Knie waren so fest wie Eischnee, und
sie klammerte sich einen Moment an die Tür, um sich abzustützen.
Der Mann
schluckte. »Kein Problem. Soll ich warten, bis Sie drinnen sind?«
Elisabeth
blickte zu dem geliebten Haus, das immer ihr Refugium gewesen war. »Ich komme
gut zurecht«, versicherte sie, drehte sich um und ging los.
Ihr junger
Ritter in schimmernder Rüstung ver schwendete keine Zeit, fuhr aus der
Einfahrt und brauste davon. Elisabeth lächelte, während sie um das Haus zu dem
Holzschuppen ging, um den Schlüssel aus dem Versteck zu holen.
Die Lichter
in der Küche leuchteten hell, als sie den Schalter drückte. Sie hätte gern eine
Tasse Tee getrunken, aber ihre Kraft war am Schwinden, und sie sehnte sich
nach Jonathan.
Im ersten
Stock fand sie jedoch die Tür in die Vergangenheit versiegelt, obwohl sie die
Halskette trug. Nachdem sie es eine halbe Stunde lang versucht hatte, gab sie
auf und fiel im Schlafzimmer aufs Bett.
Am Morgen
versuchte sie es erneut, aber es war sinnlos. Sie verbot sich, an die
Möglichkeit zu denken, daß das Fenster in der Zeit für immer geschlossen war.
Lustlos
hörte sie die Nachrichten von ihrem Anrufbeantworter ab – die letzte stammte
von ihrem Arzt, der sie zur Rückkehr ins Krankenhaus drängte – und stellte das
Gerät ab, ohne einen einzigen Anruf zu erwidern. Unter der Post befand sich
nichts von Rue. Ungeöffnet warf sie alles in den Müll.
Nach dem
Frühstück schrieb sie wieder einen langen Brief an Rue, klebte eine Marke
darauf und trug ihn zum Briefkasten. Als sie ins Haus zurückkehrte, war sie einem
Zusammenbruch nahe.
Nach einem
langen, heißen Bad fand sie so viel Kraft, daß sie auf dem Korridor
stehenblieb, sich gegen die Tür lehnte und beide Hände gegen das Holz stützte. »Jonathan?«
Keine
Antwort, und Elisabeth fragte sich, ob das daher kam, daß es Jonathan nicht
mehr gab. Tränen standen in ihren Augen, als sie nach unten ging und
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