Linda Lael Miller
größere
Kinder jammerten, sie wollten heim. Pferde wieherten, Zaumzeug knarrte, Räder
und Hufe klapperten leise auf der weichen Sommererde unter dem saftigen grünen
Gras.
Was für eine
zauberhafte Mischung anheimelnder Geräusche, dachte Annabel und verspürte
wieder diese wundervolle Illusion dazuzugehören, ein Teil von all dem zu sein.
Sie rief
sich innerlich zur Ordnung, als Gabriel sich neben sie setzte und die Zügel
nahm. Sie war gekommen, um von diesem unglaublich attraktiven, unerträglich
sturen Mann an ihrer Seite die Scheidung zu verlangen, und nichts durfte sie
von ihrer wahren Mission in Parable ablenken.
Gewiß, ihre
Pläne hatten eine leichte Änderung erfahren durch die Entdeckung, daß Nicholas
in Schwierigkeiten steckte, doch sobald ihr Sohn wieder auf dem rechten Weg
war, blieb ihr nichts anderes übrig, als
Parable wieder zu verlassen. Selbst wenn sie gern geblieben wäre, mußte sie
bedenken, daß sie niemals wirklich einen Platz in dieser Stadt erlangen würde,
in der jeder jeden kannte und praktisch alle über Gabriel und sie Bescheid
wußten.
Betrübt
verschränkte Annabel die Hände. Sie hatte auch in Warwickshire und Boston
niemanden, der ihr wirklich
nahestand; obwohl sie zahlreiche Bekannte hatte, fiel
ihr nicht eine einzige Freundin ein, der sie ihre geheimsten GedAnken hätte
anvertrauen können. Sie
war, so schien es, dazu verdammt, ihr Leben lang in der Welt herumzuziehen, wie
ihr Vater es getan hatte, und ihre Gründe, ins Exil zu gehen, waren nicht viel
anders als seine.
Auch Ellery
Latham hatte trotz seiner frevlerischen Eskapaden immer nur ein Heim gesucht
und Menschen,
die ihn akzeptieren und in ihrem Kreis aufnehmen würden. Doch dieses Ziel, das
so simpel für die meisten Menschen war, hatte er sein ganzes Leben nicht
erreicht.
Hinter all
diesen düsteren Überlegungen verbarg sich eine tiefempfundene Sehnsucht, und
als der kleine
Wagen über den steinigen Pfarrhof holperte und dann
auf die genauso unebene Straße einbog, wurde Annabel ein paarmal gegen Gabriel
geschleudert. Er
fühlte sich wie eine steinerne Stütze an und roch angenehm nach frischer Luft
und grünem Gras. Seine Nähe vermittelte Annabel einen gewissen unruhigen Trost.
Impulsiv, und
weil sie sich so lange so allein gefühlt hatte, schob sie ihren Arm durch
seinen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Der Wunsch, es möge alles
anders zwischen ihnen sein, erwachte in ihr so heftig, daß er sich in Tränen
äußerte, die er nicht sehen durfte. Tränen, die hinter ihren Lidern brannten,
aber rasch verdrängt wurden, bevor sie über ihre Wangen rinnen konnten.
Gabriel
sagte nichts, aber es genügte ihr, für diese eine Nacht zumindest, daß er bei
ihr war und sie, ungeachtet ihrer Differenzen, behüten und beschützen würde.
Daß er auch in tiefster Nacht den Heimweg fand.
Die Ranch
war dunkel, als sie eintrafen, aber ein Mann stand auf der Veranda und rauchte
eine Zigarre, deren glühendes Ende wie ein roter Punkt in der Dunkelheit zu
sehen war und die Luft mit Tabakrauch erfüllte. Er löste sich von der Wand, an
der er lehnte, als Gabriel vom Kutschbock stieg, und begann, den müden Pferden
gut zuzureden, als Gabriel Annabel vom Wagen hob.
Der
Rancharbeiter stieg auf den Kutschbock und fuhr den Wagen in die Scheune, und
als er fort war, hob Gabriel Annabel auf seine Arme.
Sie war
außer Atem und erschöpft, erfüllt von freudiger Erregung und betrübt zugleich.
Nur Gabriel konnte eine solche Wirkung auf sie haben.
»Was tun
Sie da, Mr. McKeige?« fragte sie ein wenig spitz, machte aber keine Anstalten,
sich aus seinen Armen zu befreien.
»Du glaubst
doch wohl nicht, ich hätte es vergessen?« entgegnete Gabriel, als er sie über
den Hof und dann auf die Veranda trug.
»Gabriel
...«
Er brachte
sie mit einem schnellen, flüchtigen Kuß zum Schweigen, der wieder neue, höchst
unpassende
Wünsche in ihr weckte, zusätzlich zu all jenen, die sie schon den ganzen Abend
lang gequält hatten. »Sei still«, sagte er. »Heute nacht bist du noch immer meine Frau,
ganz gleich, was du auch vorhast, und ich bin nach wie vor dein Ehemann. Es ist
keine Sünde, wenn wir heute nacht ein Bett teilen.«
Annabel
hatte dem nichts entgegenzusetzen, obwohl sie zu einem anderen Zeitpunkt
vielleicht wütenden Protest erhoben hätte. Doch heute abend war sie todmüde und
ganz schwach vor Sehnsucht; sie konnte es kaum erwarten, ihrem leidenschaftlichen
Verlangen nachzugeben und die wundervolle Erfüllung zu
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