Linksträger: Roman (German Edition)
Paul nennen. Gleich zwei geschlechtsreife Weibchen also. Die nordrhein-westfälische Untergattung des Yeti scheint auf einer gesicherten Population zu fußen. Und das, obwohl auch Paul nicht so recht dem klassischen Schönheitsideal entsprechen will. Es sei denn, man ist Großwildjäger.
Sowohl Sherine als auch Paul haben die zierlichen Ausmaße eines Schaufelradbaggers. Zwei Kubikmeter pure Körpermasse, Hände wie Kindersärge und Finger wie Klappspaten. Beide Wesen dürften schätzungsweise Mitte vierzig sein, vielleicht auch siebzig, wer will das bei frei lebenden Exemplaren dieser Gattung schon so genau wissen. Um ganz sicherzugehen, müsste man sie schon wie Mammutbäume aufschneiden und ihre Jahresringe im Inneren zählen. Fasziniert und verschreckt zugleich schüttele ich beide Pranken und hoffe insgeheim, dass ich später vielleicht einen Gipsabdruck von beiden Händen nehmen darf.
»Hi, ich bin der Robert aus Frankfurt.« Instinktiv purzelt mir die einzig sinnvolle Erklärung aus dem Mund, warum diese beiden Wesen in Oberhof sind. »Sagt mal, seid ihr mit dem Zirkus hier in der Stadt?«
»Zirkus? Hä, versteh ich nicht.« Sherine schüttelt ihren mächtigen Schädel. »Ne, wir sind hier, um das zu bekommen, was alle hier wollen. Saufen und Spaß haben. Schließlich feiern wir meinen Geburtstag und Pauls erfolgreichen Abschluss.«
Okay, kein Zirkus, und dass dem Oberhofer Zoo zwei primatenähnliche Weibchen entlaufen sind, habe ich auch nirgends gelesen. Also versuche ich, für die Wissenschaft weitere Informationen zu sammeln.
»Wie alt bist du denn geworden?«
Sherine streckt wie auf Kommando ihre beiden Laternenarme in Richtung der Diskokugel, von der sie locker im Stehen den Staub abwischen könnte. Stattdessen grölt sie: »Volljährig.«
Ich zucke erschrocken zusammen. Teils aufgrund der Lautstärke, die sogar die Lautsprecher übertönt, teils vor Überraschung, hatte ich doch eine etwas andere Altersvorstellung. Vielleicht rechnet der Castrop-Rauxeler Yeti aber auch in Hundejahren.
»Du meinst achtzehn Jahre?«
»Na logisch.«
Ich traue dem Braten noch nicht. »Menschenjahre?«
»Klar. Was denn sonst?«
Ich erspare mir eine weitere Nachfrage und widme mich der zweiten spannenden Frage. Nämlich nach der Art von Pauls erfolgreichem Abschluss. Ich tippe auf Baumschule oder integrativen Kindergarten.
»Und was für ’nen Abschluss hat Paul zu feiern?«
»Hauptschule, sie ist zwar schon neunzehn, ist aber dreimal sitzen geblieben.«
Das überrascht mich nun allerdings weniger als das Alter von Sherine. Daher nicke ich.
»Ah, Lernschwäche.«
»Ne, wegen der beiden Kinder musste sie lange aussetzen.«
Dreimal sitzen geblieben und zwischendurch zweimal abgeferkelt. Respekt. Ich möchte es genauer wissen. Schließlich werde ich selbst bald Vater.
»Sag mal, Paul, deine Freundin meint, du bist gerade neunzehn geworden und hast schon zwei Kinder?«
»Ja, Ben-Christian ist zwei und Kwekalele vier.«
Ben-Christian und Kwekalele? Allein dafür gehört der Paul-Yeti ausgerottet.
»Das ist ja mal ein ausgefallener Name.«
Sofort schiebt Paul die Erklärung hinterher: »Ich glaube, Ben ist die Kurzform von Benjamin, und Christian ist ein nordischer Name. Mein Mann und ich konnten uns nicht entscheiden, daher haben wir einfach den Doppelnamen gewählt.«
»Äh, ich meinte eigentlich den anderen Namen.«
»Kwekalele?«
Ich nicke. »Genau.«
»Ach, das ist wegen meinem Exmann. Der kommt aus dem Surinam. Und Kwekalele ist dort ein so geläufiger Name wie bei uns Karin oder Britta.«
Neunzehn Jahre, dreimal sitzen geblieben und zwei Kinder von zwei verschiedenen Männern. Eine stolze Quote. Aber sie hat ja nun ihren Abschluss.
Der DJ legt einen neuen Song auf, was Yeti Sherine dazu veranlasst, mich aus dem toten Winkel anzuspringen und das Lied lautstark in meine Ohrmuschel zu intonieren. Zunächst erkenne ich das Lied nicht richtig, dann kann ich jedoch Textfragmente von David Hasselhoffs »I’ve been looking for freedom« ausmachen. Obwohl Sherine kein Wort Englisch spricht, hält sie dies nicht davon ab, wie ein Kindergartenkind rein nach Gehör mitzusingen …
»Eif bi luggi vor Frieden … eif bi luggi so loo, Eif bi luggi vor Frieden … la la la la laaaa. Los, tanz mit!«
»Ich bin nicht so ein Tanz…«
Weiter komme ich mit meiner Ausführung nicht, da ich sogleich zwischen die beiden Body-Mass-Index-Monster auf die Tanzfahrbahn geschleudert werde. Und kaum dass ich es
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