Lockende Versuchung
hellwach. Sie griff nach der Messingglocke auf ihrem Nachttisch und bewegte sie so heftig, dass Gwenyth in Nachthaube und Überwurf atemlos angerannt kam. Sie machte aber trotz ihres Aufzuges nicht den Eindruck, als sei sie soeben aus dem Schlaf gerissen worden.
„Was ist los, Gwenyth“, fragte Julianna besorgt. „Ist das etwa Sir Edmund, den ich rufen höre?“
„So ist es, Ma’am. Der Herr ist ja so krank!“ Aufgeregt berichtete das Mädchen in hastigen Worten: „Tantchen sagt, er ist rein verrückt vor Fieber. Das ist die Krankheit, die er sich in den Tropen geholt hat. Alle paar Jahre kommt sie wieder. In dem ersten Winter, wo ich hier im Hause war, ist er fast dran gestorben. Aber diesmal ist’s noch schlimmer, sagt Tantchen. Seit Stunden ruft er nach seiner Schwester. Mr Brock kann ihn nicht beruhigen und ist mit seiner Weisheit am Ende.“
„Ist denn da gar nichts zu machen?“, erkundigte sich Julianna bedrückt.
Ratlos hob Gwenyth die Schulter. „Das weiß ich nicht, Ma’am. Ich bin doch kein Doktor, nicht wahr? Mr Brock hat John nach dem Bader geschickt. Vielleicht kann der …“
Nein! Qualvolle Erinnerungen an die letzten Worte ihrer Großmutter stiegen bei der Erwähnung eines Baders in Julianna auf. „Ich müsste nicht sterben, wenn du nicht versucht hättest, mich durch einen Bader kurieren zu lassen“, hatte sie dem Vater vorgehalten, ehe der Tod ihre Augen schloss. Seit diesem Tage hatte kein Bader mehr die Schwelle von Alistair Ramsays Haus überschritten. Stattdessen hatte der Vater über viele Jahre hinweg junge, wissenschaftlich ausgebildete Ärzte unterstützt. Und nun war Julianna ebenso entschlossen, keinem Bader mehr Einlass in ein Krankenzimmer zu gewähren. Bei diesen Überlegungen reifte ein Plan in ihrem Kopf.
„Gibt es irgendwo noch ein Gewand von Mrs Bayard?“, wandte sie sich an Gwenyth.
„Ich denke schon, Mylady“, erwiderte das Mädchen. „Das hier waren ja ihre Zimmer, und wir haben ihre Sachen erst herausgeholt, als wir für Euern Einzug alles zurechtmachen mussten.“
„Gut, gut. Bring mir so schnell wir möglich eines ihrer Kleider“, befahl Julianna hastig.
Gwenyth eilte aus dem Zimmer, und Julianna versuchte noch einmal, allein mit sich ihren ganzen Verstand zusammenzunehmen. Da sie sich in gewisser Hinsicht für Sir Edmunds kritischen Zustand verantwortlich fühlte, wollte sie ihr Möglichstes tun, um eine Besserung herbeizuführen. Das Wichtigste war dabei zunächst zweifellos, Sir Edmund zur Ruhe zu bringen und sich den Bader vom Halse zu schaffen. Natürlich würde bei dieser Gelegenheit ein Zusammenstoß mit Mr Brock unvermeidlich sein, und so war es wohl das beste, schon jetzt die Kräfte dafür zu sammeln.
„Ich hoffe, das tut’s.“ Gwenyth kam zur Tür hereingestürzt. „Ich habe das erste genommen, das mir in die Hände fiel.“
„Für den Anfang reicht das schon.“ Scharfer Kampfergeruch stieg Julianna in die Nase, als sie das Gewand überstreifte. „Sorge dafür, dass die anderen Kleider ausgelüftet werden, falls ich sie noch brauche. Und nun hilf mir, die Haube über meine Haare zu ziehen. Dann aber rasch zurück ins Bett. Ich werde morgen deiner Hilfe dringend bedürfen.“
„Gewiss, Ma’am.“ Das Mädchen machte einen raschen Knicks und verschwand dann lautlos.
Ehe Julianna ebenfalls in den halbdunklen Korridor hinaustrat, holte sie tief Atem. Lieber würde sie einer wilden Bestie dort gegenüberstehen als dem erbosten Mr Brock. Doch es war weder ein Untier noch der Haushofmeister, dem sie nach wenigen Schritten begegnete, sondern ein junger Lakai in Begleitung eines Fremden, der eine vielsagende Tasche bei sich hatte.
Entschlossen streckte sie dem dem Mann die Hand entgegen. „Ihr seid der Chirurgus, nicht wahr?“
Der Fremde setzte die Tasche ab, zog den Hut und beugte sich über ihre Hand. „Jonas Hanley mein Name, Ma’am. Man hat mich gerufen, um Sir Edmund Fitzhugh zu behandeln. Wie ich hörte, ist sein Zustand sehr ernst.“
Das ist noch sehr zurückhaltend ausgedrückt, dachte Julianna und erklärte dann mit einem leichten Neigen des Kopfes: „Ich bin Lady Fitzhugh, Mr Hanley, und bedaure es aufrichtig, dass wir Euch noch zu so später Stunde in die Kälte hinausgeholt haben. Es war ein Missverständnis, für das ich mich entschuldigen muss. Mein Gemahl benötigt Eure Dienste nicht.“
Der Bader öffnete den Mund, um seinem Unbehagen über diese Wendung der Dinge Ausdruck zu verleihen, doch Julianna kam
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