Lockende Versuchung
elegant ist. Und wenn wir schon den Winter in London verbringen müssen, sollten wir uns wenigstens so gut wie möglich amüsieren.“
Wie angekündigt, erschien die Countess am nächsten Tag kurz nach dem Mittagessen in Fitzhugh House und nahm bereitwillig Juliannas Einladung zum Tee an. Eingedenk ihrer Absicht, etwas mehr Nachsicht gegenüber Edmunds Cousine zu üben, bemühte sich Julianna, deren gönnerhafte Reden geduldig über sich ergehen zu lassen.
„Eine eigene Suite – wie himmlisch! Ich hätte sie niemals als Cousine Alices Räume wiedererkannt. Und die vielen Bücher! Das hätte auch Alices Zuspruch gefunden, belesen wie sie war. Sie war ein Mensch mit einem einfachen Geschmack, aber einem sehr verständnisvollen Herzen.“ Zum ersten Male klangen Vanessas Worte wirklich aufrichtig. Doch schon ihre nächste Bemerkung zielte offenkundig wieder darauf ab, sich unterhaltsam zu zerstreuen.
„Findet Ihr diese zugige alte Galerie nicht sehr unbequem?“, erkundigte sie sich mit neckisch gespitzten Lippen und einem vielsagenden Blick zur Tür. „Ich meine, für das Hin und Her zwischen Euerm und Edmunds Schlafzimmer. Sagt doch, kommt er für die nächtlichen Vergnügungen zu Euch oder bestellt er Euch zu sich?“
Wieder dieses Thema! Julianna öffnete schon den Mund zu ihrer üblichen nichtssagenden Erwiderung, als sie plötzlich der Teufel ritt und sie herablassend erwiderte: „Auf den Gedanken,dass ich meinen Ehemann zu mir bestellen könnte, kommt Ihr wohl gar nicht?“
„Gut gegeben!“ Vanessa lachte vergnügt. „Sehr gut gegeben, wirklich.“ Es schien, als sei sie heute bereits zum zweiten Male uneingeschränkt ehrlich.
Der Nachmittag bei der Schneiderin erwies sich als nützliche Lektion für Julianna, denn Vanessa pflegte sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen.
„Merkt Euch, Clothilde, Lady Fitzhugh ist mein ganz besonderer Schützling, und Ihr müsst sicherstellen, dass sie die Sensation der diesjährigen Ballsaison wird. Ihr Gemahl hat so viel Geld, dass er gar nicht weiß, was er damit anfangen soll. Also seht zu, dass das Material nur vom Feinsten ist.“
Während die Schneiderin einige Stoffe ausbreitete und die neuesten Modezeichnungen hervorholte, erklärte Vanessa: „Clothilde ist immer bestens orientiert über die aktuelle kontinentale Mode. Ich habe sie vor ein paar Jahren in Paris kennengelernt, wo sie zusammen mit ihrer Schwester ein Atelier führte. Wie sie dort zurechtgekommen sind, ist mir allerdings schleierhaft. Die Franzosen sind so charmant und unübertroffen in Eleganz und Geist. Aber für die Aristokraten scheint es dessen ungeachtet eine Ehrensache zu sein, nie die Rechnung eines Handwerkers zu begleichen.“
Sie betrachtete eingehend einen Ballen olivgrünen Brokats und schüttelte dann nachdrücklich den Kopf. „Nein, das kommt nicht infrage. Um auf Clothilde zurückzukommen: Ich habe sie überredet, sich in London niederzulassen. Marie-Charlotte hingegen ist in Paris geblieben und unterrichtet ihre Schwester immer über die jüngsten Entwicklungen in der französischen Mode, während Clothilde dasselbe hinsichtlich der englischen tut. Die Franzosen sind ganz verrückt auf alles à la mode anglaise . So wie wir ihre Eleganz übernehmen möchten, wollen sie sich unsere Einfachheit zu eigen machen.“
„Das kann man sich schwer vorstellen“, erwiderte Julianna.
„Und doch ist es so!“ Vanessa zuckte die Schulter. „Auch noch auf anderen Gebieten. Was glaubt Ihr, war im vorigen Jahr die neueste Errungenschaft in den Pariser Ballsälen? Nichts anderes als der primitive Bauerntanz, den ich als Kind in Surrey gelernt habe. Sie nannten es zwar contredans , verzierten ihn mit allerhand Schnörkeln und führten ihn etwas langsamer aus.“
Clothilde legte weitere Modezeichnungen vor, die Julianna samt und sonders gefielen, aber Vanessa war viel wählerischer.
„Nein, dieser Schnitt würde Lady Fitzhugh nicht kleiden. Sie würde ja regelrecht schwindsüchtig darin aussehen.“ Sie legte die Skizze achtlos zur Seite. „Ich finde diesen hier besser, allerdings mit einem stärkeren farblichen Kontrast bei dem Unterkleid. Wir müssen auch unbedingt noch zur Putzmacherin und zum Kürschner. Und Ihr braucht Handschuhe, Liebste. Was um alles in der Welt habt Ihr nur mit Euern Händen angestellt?“
Ehe es sich Julianna versah, hatte Madame Mercier eine ansehnliche Bestellung in Händen und sie selbst eine Verabredung zur Anprobe in zwei Wochen. Nach der Erledigung
Weitere Kostenlose Bücher