Lockruf der Finsternis
seine Augen gesehen, und sie hatte sein Grauen und seinen Zorn gespürt.
Kein Vater verdiente eine solche Erinnerung.
Sie schluckte und trat einen Schritt vor. »Sin …«
»Fass mich nicht an. Ich brauche keinen Trost, und schon gar nicht von der Tochter der Frau, die mir alles genommen hat.«
Kat nickte. Das verstand sie gut. »Was ist mit Ishtars Kräften geschehen, als sie starb?«
Er leerte mit einem letzten Schluck die Flasche. »Ehe sie starb, hat sie mir genug Kräfte übertragen, sodass das Universum bisher noch nicht untergegangen ist. Deshalb kann ich jetzt gegen die Gallu kämpfen und sie besiegen. Der Rest ihrer Kräfte wurde freigesetzt, und es gab einen riesigen Vulkanausbruch. Dann kam Aphrodite in unser Pantheon, die Göttin der Liebe und der Schönheit, und ersetzte Ishtar. Und es dauerte nicht lange, da gehörten wir alle der Geschichte an.«
Kat schluckte und erinnerte sich daran, wie sie die griechischen Götter darüber reden hörte. Aphrodite hatte die Eifersucht als Waffe benutzt, um die Sumerer gegeneinander aufzuhetzen, bis sie niemandem mehr vertrauten. Kats Tante war schon immer heimtückisch und manipulierend gewesen. Doch es überraschte Kat immer wieder, wie sehr Leute, die einander schon lange kannten, bereit waren, den Lügen eines Neuankömmlings Glauben zu schenken.
Wie sehr sie bereit waren, solch negativen Emotionen nachzugeben – bis hin zu dem Punkt, wo sie alles taten und einander verfolgten, nur um ihren angeblichen Feind zur Strecke zu bringen, der in Wirklichkeit unschuldig war.
Letztendlich hatten sie alle einen hohen Preis dafür bezahlt.
Aber das lag alles lange hinter ihnen und konnte nichts zur Lösung ihres jetzigen Problems beitragen. Sie brauchten jemanden, der …
Sie hielt inne und erinnerte sich an etwas, das Sin gesagt hatte.
»Ich habe eine Frage: Warum kannst du nicht das Gleiche tun wie Zakar? Wenn ihr Zwillinge seid, kannst du dann nicht auch im Traum gegen Asag kämpfen und dieselben Kräfte des Dämons bekommen?«
Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Wenn ich meine eigenen Kräfte hätte und nicht nur einen Teil von Ishtars Kräften, dann könnte ich jede Menge Dinge tun … zum Beispiel könnte ich deine Mutter umbringen.«
Da war sie wieder mitten hineingetappt. Aber sie entschloss sich, seinen Hass zu ignorieren, und versuchte einen anderen Weg. »Was ist mit den Oneroi?« Das waren die Traumgötter der griechischen Götterwelt. »Könnten wir einen von denen dazu bringen, Asag zu finden und mit ihm zu kämpfen?«
»Wir könnten es zumindest versuchen. Natürlich haben wir keine Ahnung, wie Asags Gift bei ihnen wirkt, denn sie gehören zu einer anderen Art von Göttern. Könnte sehr interessant sein. Entweder funktioniert es, oder sie werden zu einer neuen Art von Dämonen, und wir müssen lernen, wie wir sie töten können. Wen wollen wir uns denn als Versuchskaninchen aussuchen?«
Bei seinem Sarkasmus verzog Kat das Gesicht, aber er hatte recht. Niemand konnte vorhersagen, ob ein solches Unterfangen sich nachteilig auf einen ihrer Cousins auswirken würde. »Sieht so aus, als bliebe Zakar unser bester Trumpf.«
»Wenn du nicht gerade deine verdammte Mutter dazu überreden kannst, meine Kräfte loszulassen, dann ist es so, ja.«
Sie kniff wütend die Augen zusammen und sah ihn an. »Na, das ist ja wohl ein bisschen viel verlangt, denn ich hab es schließlich nicht mal geschafft, sie dazu zu bringen, dein Leben zu verschonen. Und du hast dich bei ihr nicht gerade beliebt gemacht.«
»Du liebe Güte, entschuldige meinen vollkommenen Mangel an guten Manieren. Sollen wir deine liebste Mami jetzt rufen und sie zum Tee einladen? Ich verspreche auch, dass ich mich mustergültig verhalten werde, wenn ich sie eigenhändig erwürge.«
»Na, hoppla«, sagte Kish lachend, während er ins Zimmer trat, »was ist denn hier los? Die Sarkastischen gegen die Stinksauren? Soll ich Popcorn machen? Vergesst Deutschland sucht den Superstar , Leute! Das hier ist noch viel unterhaltsamer.«
Sin warf seinem Diener einen mörderischen Blick zu. »Willst du hier irgendjemanden bis zum Äußersten reizen, Kish?«
»Plötzlich überkam mich die Lust zu sterben, und ich verspürte ein tiefes Bedürfnis danach, heraufzukommen, damit du mich wieder zu Stein verwandeln kannst, Boss. Ich bin gern eine Statue … solange du mich nicht irgendwo in einen Park stellst, wo mir die Tauben auf den Kopf scheißen.«
Kat musste ein Lachen unterdrücken.
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