Lockruf Der Nacht
sie schließlich: »Wir nehmen es für achtunddreißig Millionen. Sprechen Sie mit dem Verkäufer«, und geht noch einmal mit prüfendem Blick durch das Apartment und die Treppen hoch.
Es wäre mein zweitschnellster Verkauf in nur einem Monat. Ich scheine einen Lauf zu haben.
Mein Handy klingelt. Der Anrufer ist unbekannt. Es ist der Kunde von heute Morgen, L. Steiner, und macht ebenfalls ein Angebot: fünfunddreißig Millionen.
Ich komme mir vor wie bei der Börse.
Nach der Besichtigung schleppe ich mich mit letzter Kraft in mein Apartment, melde mich bei meinem Arbeitgeber ab und mache noch einen letzten Anruf bei Yven. Während ich ihm von den zwei Angeboten erzähle, muss ich mehrfach niesen und entschuldige mich jedes Mal dafür.
»Du klingst nicht gut«, sagt er. »Brauchst du Medizin? Oder irgendetwas anderes?«
»Nein. Es geht schon.«
»Ruf mich ruhig an. Was den Preis des Apartments angeht … ich lasse mir das noch mal durch den Kopf gehen und melde mich dann bei dir.«
Ich träume einen alten immer wiederkehrenden Traum. Ein Drama spielt sich in meinem Mund ab. Mir fallen beim Sprechen alle Zähne aus. Wie kleingehackte Pfefferminzbonbons liegen sie in meiner Hand und jeder Versuch, sie wieder an ihren Platz zu stecken, scheitert kläglich. Ich finde mich mit dem Gedanken ab, ab jetzt zahnlos zu sein, denn eins ist klar, kein Zahnarzt wird diese Ruinen wieder zusammensetzen können.
Als ich aufwache ist alles beim Alten und meine Zähne sind glücklicherweise an ihrem Platz. Nur in meinem Kopf hämmert und pocht es.
Die Träume in der Nacht sind wild und ohne Zusammenhänge. Albträume, in denen ich vor irgendetwas davonlaufe, Tsunamis, die mich in die Tiefe reißen, große dunkle Kugeln, die auf mich zurollen und jedes Mal wache ich schweißgebadet auf.
Der Virus hat mich voll im Griff und reißt mich regelrecht um.
Mit kurzen Unterbrechungen schlafe ich fast zwei Tage und Nächte durch. Am dritten Tag wache ich völlig dehydriert auf und robbe aus dem Bett hinunter in die Küche, um zu trinken.
13.
Auf meinem Handy sind zwanzig Anrufe in Abwesenheit, zehn SMS und ein paar Nachrichten eingegangen. Darunter zwei von meinem Chef höchstpersönlich, der wissen will, was mit dem Apartment ist, mehrere von Lilith, drei von Yven, der recht besorgt klang und anscheinend mit Lilith vor meiner Tür gestanden hat, um nach mir zu sehen. Ich bin gerührt, dass sich jemand um mich Sorgen gemacht hat. Es ist lange her, dass das der Fall war. Erwachsen und Single heißt leider auch, auf sich allein gestellt zu sein. Da bringt einem keiner mehr ein heißes Süppchen ans Bett, besorgt Medikamente und befühlt die Stirn. Ich seufze und zerfließe in Selbstmitleid über meine armselige Situation.
Gerade höre ich die letzte Nachricht ab, als sich meine Nackenhärchen in die Vertikale erheben. Es ist ein Detective Bradley vom NYPD. Er bittet um Rückruf. Ich habe noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt. Schweiß bricht mir aus allen Poren aus.
Mr. Summer kann jetzt warten, als erstes rufe ich Lilith an.
»Sag mal, wo hast du gesteckt?«, blafft sie mich an.
»Im Bett. Ich war krank.«
»Ich habe mir ernsthaft Sorgen um dich gemacht, Leia. Ganz besonders, als Yven mich anrief und mir noch erzählte, dass ihr euch im Apartment getroffen habt und du ziemlich schlecht ausgesehen hast. Wir sind dann zu dir gefahren und haben eine Stunde klingelnd und klopfend vor deiner Tür gestanden. Yven wollte schon die Feuerwehr rufen.«
»Hab nichts gehört. Sorry.«
»Er hat sich ganz schön in dich verguckt, glaube ich.«
»Ach, quatsch.«
»Doch, glaub mir. Ich weiß, wenn es ernst wird.« Sie lacht. »Er hat uns zu seiner Party in die Hamptons eingeladen.«
»Schön. Ich weiß noch nicht, ob ich Zeit habe.« Es ist mir ziemlich egal, ob da eine Party steigt. Ich bin eh nicht in Stimmung.
»Leia! Seine Brüder kommen bestimmt auch. Ich hatte dir doch erzählt, dass George völlig hin und weg war und …«
»Ja, ich weiß, aber George ist auch schwul, Lilith«, unterbreche ich sie.
»Schwul oder nicht schwul. Wir fahren da hin, dann kannst du dein rotes Kleid endlich mal anziehen.«
Komisch, dass sie das Kleid erwähnt, das ich in meinem Traum getragen habe. Ich habe es letztes Jahr im Sommerschlussverkauf zum halben Preis gekauft und bisher keine Gelegenheit gehabt, es anzuziehen. Rot ist meine Lieblingsfarbe. Es ist die Farbe des Feuers und des Blutes. Der Leidenschaft und des Hasses, der
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