Löwenherz. Im Auftrag des Königs
»Was ist denn auf einmal los?«, fragte sie halblaut.
»Ich habe keine Ahnung«, murmelte Judah. »Eine solche Feindseligkeit habe ich an diesem Ort noch nie erlebt.«
Der Vorderste in der Reihe der Abgesandten, ein schwergewichtiger Patriarch mit Bart bis zum Bauch, stolperte unvermittelt. Wahrscheinlich hatte ihn jemand angerempelt. Edith vermutete, dass es Absicht gewesen war.
Der Patriarch räusperte sich und wandte sich zu den anderen Juden um. »Bleibt zusammen, was immer passiert!«, mahnte er. Edith erinnerte sich, dass er sich ihr als Jakob von Orléans vorgestellt hatte. Judah war nicht der einzige Jude, der aus Frankreich nach England gekommen war. Er hatte ihr am gestrigen Abend, als auch Jakob mit am Tisch gesessen hatte, mit schwärmerischer Bewunderung erklärt, dass dieser einer der größten Gelehrten der Welt sei. Jetzt war der Gelehrte bleich und auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen.
Die Straße nach Westminster war kurz, sie führte durch Obstgärten und kleine Felder, die so gepflegt waren, dass sie nur einem der Stadtklöster gehören konnten. Alle paar Schritte standen Soldaten, die die Menge überwachten. Im ersten Augenblick überlegte Edith, ob sie einen der Männer bitten sollte, eine Eskorte für die Juden zu stellen. Dann aber musste sie mit ansehen, wie einer von ihnen vor den Juden ausspuckte. Also war auch von ihnen nichts Gutes zu erwarten.
»Habt Ihr gesehen?«, wisperte sie in Judahs Richtung.
»Kein Grund zur Sorge«, sagte Judah mit offensichtlich gespielter Gelassenheit. »Er hat ja niemanden getroffen.«
Edith erinnerte sich, dass sie einmal einer Gerichtsverhandlung beigewohnt hatte, bei der ihr Vater eine Schiedssache zwischen zweien seiner Pächter verhandelt hatte: Ein Mann hatte vor dem anderen ausgespuckt. Daraufhin war es zu einer Rauferei gekommen, bei der der Beleidiger ein Auge und der vermeintlich Beleidigte ein Ohr verloren hatte. Sein Kontrahent hatte es ihm abgebissen – vermutlich um ihn dazu bewegen, den Daumen aus seinem Auge zu nehmen. Der Beleidiger hatte bei der Verhandlung geschworen, dass das Ausspucken nicht persönlich gemeint gewesen sei, sondern dem Umstand geschuldet, dass er einen Kirschkern im Mund gehabt hätte. Ediths Vater hatte ihm dennoch keinen Ausgleich wegen des verlorenen Auges zugestanden. »Er hat vor einem anderen Mann ausgespuckt«, hatte er ihr später erklärt. »Er kann froh sein, dass der andere ihm nicht die Gurgel durchgeschnitten hat. Es gibt keine schlimmere Beleidigung.«
Es schien, als würde Judah Ediths Gedanken lesen. Er deutete auf seinen Gürtel. »Seht her, Mylady: kein Messer, kein Dolch, kein Schwert. Wir Juden sind per Gesetz Diener des Königs. Sicher habt Ihr gehört, was im Reich und in meiner Heimat Frankreich geschehen ist. Viele Juden wurden zu Beginn der Kreuzzüge ermordet. Hier in England schützt uns des Königs Gesetz. Aber es verbietet uns zugleich, Waffen zu tragen. Die Christen jedoch verachten einen Mann, der keine Waffen trägt. So ist das Gesetz zugleich unser Fluch. Wir können uns nicht verteidigen. Deshalb können wir nur lächeln, wenn wir beleidigt werden.«
»Aber ich dachte, hier in England leben die Juden angesehen und in Gemeinschaft mit den Christen!«
»Das habe ich bis heute auch geglaubt«, brummte Judah.
Sie gelangten unbeschadet bis zur großen Halle außerhalb der Abtei, in der König Richard die Huldigung seiner Untertanen entgegennehmen sollte. Aber unter den Juden war jede Zuversicht dahin. Ihre Hände, die Kästchen und Truhen voller Geschmeide, Gewürze und Münzen trugen, zitterten.
Vor dem Eingangstor befragten Wachen die Untertanen. Die meisten wurden abgewiesen. Edith entnahm den Gesprächen der Wartenden, dass die Krönung bereits vorüber war. Danach hatte Richard in der Kathedrale von Westminster feierlich geschworen, dass er schnellstens ins Heilige Land aufbrechen und Jerusalem aus der Hand Saladins befreien würde.
»Der König sollte schon mal hier anfangen und uns aus dem Griff der Juden befreien«, brummte einer der Umstehenden. »Wer von uns Christen hat denn keine Schulden bei diesen Wucherern?« Von allen Seiten stimmten Rufer in die Schmährede ein.
»Wen haben wir denn hier?«, fragte eine gedehnte Stimme auf Normannisch.
Edith sah auf. Sie waren bis zu den Wachen vorgerückt.
»Wir bringen Geschenke für Seine Gnaden, den König von Engl…«, begann Jakob.
»Wer ist ›wir‹?«
Jakob präsentierte eine Schriftrolle. »All unsere Namen
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