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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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Fingern. Ein schönes Gefühl – das kühle Metall! Wer den Schlüssel hat, hat die Macht. Auch mein Vater hatte den Schlüssel.
    Ich wollte den Schlüssel nehmen, um damit den silbernen Kasten mit dem Namen »Abdelhamid«, der im Flur unten gleich hinter der Haustür angebracht war, aufzuschließen. Zum ersten Mal ein Schloss aufsperren! Auch wenn ich genau wusste, dass mein Mann das nicht gutheißen würde und dass in diesem Briefkasten sicher keine Post für mich liegen würde. Trotzdem, ich wollte jeden Brief einzeln herausnehmen, so wie ich das schon ein paar Mal bei meinem Mann beobachtet hatte, und dann den Schlüssel wieder in den Kasten stecken, umdrehen und zuschließen.
    Es waren drei Briefe, die Schrift konnte ich nicht lesen, und eine Werbebroschüre. Mit der Colaflasche und der Post in der Hand stieg ich langsam die Treppe hoch. Ich war neugierig, hielt die Briefe gegen das Licht und drehte sie hin und her. Oben in der Wohnung holte ich ein spitzes Messer aus der Küche und ritzte die Umschläge auf: drei maschinengeschriebene Formulare. Natürlich waren die nicht für mich, ich hätte sie auch gar nicht lesen können, aber ich wollte die Briefe öffnen und sie anschauen, sehen, wie ein offener Brief aussieht. Schön. Aufgereiht wie ein Kartenspiel habe ich dann alle Papiere auf dem Couchtisch ausgebreitet. Wie meine Schwester die Formulare auf dem Schreibtisch ihres Büros im Sozialamt ausgebreitet hatte.
    Als mein Mann nachmittags nach Hause kam und die geöffneten Briefe sah, fand er das überhaupt nicht lustig. Was mir denn einfiele, seine Post zu öffnen, schrie er, seine Privatsphäre zu verletzen, das alles ginge mich einen Dreck an.
    »Das darfst du nicht, und davon verstehst du nichts, kapiert?« Dann schüttelte er mich. »Das sind meine Briefe, untersteh dich ja, dich da noch einmal einzumischen.« Ich schaute an die Decke, und er schlug zu.
    Geschlagen hat mich Abdullah wie immer. Auf seine typische Art: Er packte mich an beiden Armen, schüttelte mich, wie man einen Sack Getreide ausschüttet, und warf mich weg, zu Boden oder an die Schrankwand, einfach weg. Manchmal gab er mir vorher noch eine Ohrfeige, je nach Laune. Ich fing dann immer an zu schreien: Hilfe, mein Baby! Wie sollte ich es schützen? Ich hatte doch nur zwei Arme. Mit denen umklammerte ich meinen Bauch wie einen Ball. Aber was, wenn er platzen würde?
    Da wünschte ich mir, dass mein Kind ein Junge werden würde. Ein Sohn. Wenn ich Abdullah einen Sohn schenkte, dann würde er mich besser behandeln müssen. Davon war ich überzeugt. Er selbst hat nichts dazu gesagt, wir haben auch nicht miteinander über das ungeborene Kind gesprochen, aber ich wusste es. Ich wollte einen Jungen. Damit er es besser haben würde als ein Mädchen.
    Kurz vor der Geburt kam Abdullah eines Tages mit einem Kinderwagen nach Hause, nagelneu. »Wo hast du den her?« – »Ein Sonderangebot im Drogeriemarkt.« – »Was ist ein Drogeriemarkt?« – »Das wirst du schon noch sehen.« Er hatte einen Kinderwagen besorgt, ohne mich mitzunehmen! Warum nicht? Ich wäre gerne dabei gewesen, trotzdem fragte ich nicht: Warum hast du mich nicht mitgenommen? Genauso wenig, wie ich ihn in den folgenden Tagen fragte oder etwas sagte, wenn er nach der Arbeit immer wieder mit neuen Dingen aufkreuzte: Wickeltisch, Windeln, Strampelhosen, Fläschchen, alles, was ein Baby braucht. Alles hat er ohne mich gekauft. Ich machte ihm keine Vorwürfe, aber es herrschte eine Stille zwischen uns, die mir den Atem abschnürte. Als er die Sachen auspackte und in unserem Kinderzimmer abstellte, weinte ich. »Stell dich nicht so an. Sei froh, dass ich an die nötigsten Dinge denke«, sagte er dann ungerührt. »Du hast doch gar keine Ahnung davon, was wir brauchen. Du bist zu blöd dazu.«

    Es war im Mai, als die Ärztin bei einer Routineuntersuchung plötzlich sehr besorgt reagierte und sagte, ich müsse sofort ins Krankenhaus. »Zu viel Cola getrunken«, tobte mein Mann, »das hat dem Kind nicht gutgetan.« – »Zu viel alleine«, sagte ich und fasste ihn am Arm. Das war frech, aber wir waren noch in der Arztpraxis, Abdullah konnte mir nichts tun.
    Es war warm an diesem Tag, so warm, dass ich sogar ein buntes weites Kleid aus Tunesien angezogen hatte. Ich hatte mich auf den Besuch bei der Frauenärztin gefreut, weil ich wusste, dass sie eine Ultraschalluntersuchung machen wollte. Wiedersehen mit meinem Baby im Bauch: Was strengte es sich an, seine Beinchen zu strecken, obwohl es

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