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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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und wusste nicht, ob mich meine Söhne überhaupt noch sehen wollten.
    Im Flugzeug hatte ich schon Ausschau nach Landsleuten gehalten und tatsächlich jemanden aus Hamburg-Harburg erkannt. Er kannte mich nicht, ich sprach ihn nicht an, aber ich wollte ihm folgen. Das Gleiche tun wie er. Geld für ein Taxi hatte ich nicht. Also ging ich ihm hinterher, ich kam mir ein wenig albern dabei vor. Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Wie er nahm ich den Bus und die U-Bahn. Ich glaube, er hat mich nicht bemerkt, wie immer war ich gut im Nachmachen.
    Mein geliebter Spielplatz vor dem Haus: Ich erkannte ihn sofort. Grau und verlassen an diesem Abend, aber egal. Ich nahm meine Reisetasche, trug sie zu der Wurzel im Sandkasten und setzte mich. Sind die Kinder und mein Mann überhaupt da? Oder umgezogen? Ich komme wegen Amin und Jasin, sagte ich mir: Wegen – der – Kinder! Sie sind mein Ziel. Meine Angst vor Abdullah war Nebensache. Ich wollte die Kinder, nichts anderes.
    Es dämmerte, ich saß lange. Um mich herum zeterten die Amseln, um ihren Nachwuchs zu schützen. Irgendwo lauerte eine Katze. Zwei Wochen lang füttern Amseleltern ihre Jungen auf dem Boden, bevor sie richtig flügge sind. Wie gefährlich in dieser Gegend. Ich verstehe nicht, dass sie trotzdem immer wieder hier ihre Nester bauen und ihren Nachwuchs aufziehen. Bis die Katzen kommen und sie wegfressen. Es hatte mir immer leid getan, wenn ich die Vögel so laut schimpfend von der Küche aus gehört hatte. Nun freute ich mich fast über die vertrauten Laute.
    Die Schritte fielen mir schwer, die Stufe hoch zur Haustür, wie ein steiler Berg, das Öffnen der Tür, die Hauswände wie eine Trutzburg. Der Geruch von Schimmel, Feuchtigkeit und Beklemmung machte sich in mir breit. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Ich weiß nicht, welcher Eingebung ich folgte, aber plötzlich lenkte ich meine Schritte nicht nach rechts zu unserer Wohnung, sondern nach links zur Tür der Nachbarin. Klingelte. Bebte.
    Die Frau, die aufmachte, eine Türkin, ich kannte sie nicht gut, nur flüchtig vom Grüßen im Flur. Sie erschrak. »Mann und Kinder hier?«, fragte ich. »Ja«, nickte sie, »aber andere Frau.« Ohne viel zu erklären, konnte ich ja auch nicht, drückte ich ihr meinen Ausweis in die Hand. »Bitte – aufbewahren!« Der sollte nicht noch einmal auf unerklärliche Weise abhanden kommen. Dann bat ich die Frau, mitzukommen. Nein, ich befahl es ihr: »Komm mit.« Sie tat es gern.
    Es war nicht leicht, die Scheu zu überwinden, aber mit einem Mal konnte ich mir eingestehen, dass ich Unterstützung brauchte. Diese Einsicht hat mir auch später geholfen. Wenn ich nicht weiterwusste, habe ich mich nie lange in meinem Elend vergraben, sondern nach Hilfe gerufen.
    Die Nachbarin zog ihre Schürze aus und stellte sich neben mich, als ich an unserer Tür klingelte. Neun Sekunden zählte ich – ich richtete mich groß auf, diesmal würde ich mich nicht abwimmeln lassen –, bis die Algerierin öffnete und zu Tode erschrak: »Bissmillah erahman erahim«, stieß sie hervor. »In drei Gottes Namen, bist du das?« – »Ja, ich.« Sie machte einen Schritt zurück, als habe sie ein Gespenst gesehen, und taumelte gegen die Wand. »Gut, dass du mir den Weg frei machst«, rief ich. Meinen ganzen Mut hatte ich zusammengenommen, stieß die Tür auf und stürmte an ihr vorbei in die Küche, ins Wohnzimmer, dann ins Schlafzimmer: die Jungs, endlich! Amin und Jasin, meine Jungen, lagen im Etagenbett. Sie schliefen schon. Aber sie waren da.
    Ich sah von einem zum andern, mein Ältester mit seinem abgeschabten Stoffhund im Arm, der Jüngere hatte seinen Kopf vollkommen im Kissen vergraben. Jasin und Amin, die ich so sehr vermisst hatte. Sie schliefen in Straßenklamotten, aber sie waren da. Ich sah sie an, ein paar Minuten lang habe ich sie nur betrachtet, ich wollte ganz sicher sein. Aber warum trugen sie keine Schlafanzüge? Kümmerte sich keiner um sie? Ich strich ihnen mit der Hand übers Gesicht, über die Wangen. Wie lang die Haare gewachsen waren. Dann fuhr ich mit beiden Händen über die Bettdecke. Ich wollte meine Kinder spüren, ich beugte mich über sie, drückte sie vorsichtig an mich. Den Größeren und den Kleineren und wieder den Größeren und wieder den Kleineren. Ich nahm ihre Hände in meine Hände, und Tränen schossen mir in die Augen. Unter ihren Fingernägeln saß schwarz der Schmutz, niemand schien darauf zu achten, dass sie sich regelmäßig wuschen. Sie waren vernachlässigt,

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