Lohse, Eckart
überfahren.
Besonders diejenigen, die die Wehrpflicht zum selbstverständlichen Inventar des
eigenen Wertevorrats zählen. Das sind oft diejenigen, die ohnehin der Ansicht
sind, unter der Parteivorsitzenden Merkel würden allzu viele dieser Werte über
Bord geworfen. Sie spüren sofort, dass die Kanzlerin nach der ersten
Überraschung bereit ist, ihrem Verteidigungsminister zu folgen. Ende Juni sitzen
einige dieser Unionsmitglieder, häufig als Konservative bezeichnet, während der
Bundesversammlung zur Wahl eines neuen Bundespräsidenten beieinander. Die
Kanzlerin kommt in ihrer Nähe vorbei. Sie kann hören, was gesprochen wird: »Als
nächstes nimmt sie uns noch die Wehrpflicht weg.«
Zu einem lautstarken Verteidiger
der Wehrpflicht schwingt sich der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag,
Volker Kauder, auf. Er hat nicht vergessen, wie die Bundeskanzlerin am 20. Juli 2008 anlässlich
eines öffentlichen Rekrutengelöbnisses gesagt hat, sie »bekenne« sich zur
Wehrpflicht. Interessanterweise ist es ausgerechnet Kauder, der im Spätsommer,
als das Aus für die Wehrpflicht längst beschlossene Sache ist, Guttenberg für
sein Vorgehen lobt und dieses als gelungenes Beispiel für Führung in der
Demokratie preist. Das ist der Stand der Debatte in der zweiten Julihälfte des
Jahres 2010. Wieder naht der Tag, an dem des
Widerstands gegen Adolf Hitler gedacht wird. Angela Merkel bietet das die
Gelegenheit, sich abermals für die Wehrpflicht einzusetzen. Tut sie das?
Es ist der Abend des 20. Juli 2010. Zwischen
Reichstag und Bundeskanzleramt findet an diesem lauen Sommertag, 66 Jahre nach
dem Attentat auf Hitler, ein feierliches Gelöbnis von Bundeswehrsoldaten statt.
Dort, wo sonst die Touristen flanieren, ist der Platz weiträumig abgesperrt,
und wer hineinkommen will, muss mehrere Sicherheitskontrollen der Polizei und
der Bundeswehr durchlaufen. Wirklich öffentliche Gelöbnisse
will die Bundeswehr nicht mehr abhalten - Trillerpfeifenkonzerte und
Sprechchöre linker Gegendemonstranten hatten solche Veranstaltungen in Berlin
immer wieder gestört. Nur an einer Seite des Platzes hat man eine Zuschauertribüne
errichtet. Dort sitzen die geladenen Gäste - Familienangehörige der Rekruten,
Nachfahren der Widerstandskämpfer, Offiziere, Vertreter wichtiger Verbände und
natürlich ranghohe Politiker, allen voran die Bundeskanzlerin. Sie hat, im
blauen Blazer und mit weißer Hose, gleich neben dem Verteidigungsminister in
der ersten Reihe ihren Platz. Auf einer seitlichen Tribüne für die Presse
stehen acht Kameras und einige verlorene Journalisten.
Die 420 Rekruten
des Wachbataillons marschieren auf, dann beginnt das lange und seltsam
anmutende Zeremoniell. Beim feierlichen Einmarsch der Truppenfahne spielt das
Musikkorps, die Soldaten marschieren auf der Stelle. Dann folgen Dutzende Male
die Befehle »Augen rechts!«, »Präsentiert das Gewehr!«, »Das Gewehr ab!«,
»Rührt euch!«. Die Rekruten exerzieren perfekt, die Zeremonie läuft wie eine
geölte Maschine. Ist das der selbstbewusste Bürger in Uniform? Oder ist es der
Soldat, der lernen muss, Befehlen blind zu gehorchen, um im Ernstfall auch
voll einsatzfähig zu sein, wenn es, etwa in Afghanistan, um Leben und Tod geht?
Sind dafür die jungen, hochgewachsenen Kerle vor dem Reichstag die richtigen?
Oder braucht die Bundeswehr andere Soldaten als diese Wehrpflichtigen? Das sind
die Fragen, die Karl-Theodor zu Guttenbergs Vorstoß aufgeworfen hat.
Nun schreitet er mit seinem
federnden Gang die Reihen der Gelöbnisaufstellung ab. Es ist eine lange Runde,
aber Guttenberg wirkt selbst bei diesem steifen Zeremoniell sportlich und
freundlich, er lächelt, nickt, grüßt die Soldaten. Am Morgen des
symbolträchtigen Tages war er bei der Kanzlerin, hat ihr seine Sicht der Dinge
dargelegt. Dass sie an diesem Abend dabei ist, sich kurzfristig den Termin hat
frei machen können, liegt nicht nur daran, dass sie, so heißt es, das
feierliche Zeremoniell mag. Es ist vielmehr in dieser Situation ein Zeichen dafür,
welche hohe Bedeutung sie der Frage der Wehrpflicht und der Zukunft der
Bundeswehr gerade jetzt beimisst. Sie will das Thema nicht dem
Verteidigungsminister überlassen.
Doch das ist nicht der Ort, an dem
man den Streit fortführen kann. Guttenberg erwähnt deshalb in seiner Rede die
aktuelle Diskussion mit keinem Wort. Er sagt das, was ein Verteidigungsminister
an einem 20. Juli zu sagen hat, ruft das
Bekenntnis der Bundeswehr zur Tradition des Widerstands
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