Lola Bensky
lachten gemeinsam.
Lola fing an, mittwochs die letzte Stunde zu schwänzen, um mehr Zeit mit Jackie zu verbringen, während sie auf Mar
got warteten. Er war ein kleiner, kräftiger Mann, und er war ausgesprochen unberechenbar. Ständig brach er einen Streit vom Zaun, rief Unbekannten etwas hinterher, äffte Leute und Tiere nach und grübelte über das Ende der Welt, die Möglichkeiten radioaktiver Strahlung oder eine chinesische Invasion nach. »Du solltest schon mal ein Reisfeld in deinem Garten anlegen«, sagte er zu Lola. »Man will sich schließlich mit dem Feind gutstellen.« Lola vergötterte ihn.
Jackie Clancy erschien Lola als Teil eines größeren Universums. Er war nicht nervös. Er fürchtete sich nicht davor, andere zu provozieren. Es war ihm egal, was andere von ihm dachten. Allen anderen Erwachsenen, die Lola kannte, war das nicht egal, selbst wenn sie tanzen gingen oder ins Kino, in kleinen Grüppchen, dicht aneinandergedrängt. Jackie Clancy stand mit beiden Beinen in der Welt und nahm es mit den Leuten auf, bezog Stellung. Er hatte große Träume und große Ideen.
Jackie Clancy trat damals in Melbourne regelmäßig im Radio und im Fernsehen auf. Und flog genauso regelmäßig aus den Sendungen wieder raus. Unter anderem deshalb, weil er seine Zunge nicht im Zaum hielt und den Zorn der australischen Rundfunk- und Fernsehzensur auf sich zog.
Als Lola Jackie erzählte, dass sie in Psycho gegangen war, anstatt ihre letzte Prüfung abzulegen, dachte sie, er würde das lustig finden. Sie irrte sich. »Das wird deine Eltern ziemlich mitnehmen«, sagte er.
Seitdem hatte Lola Jackie und Margot Clancy nicht mehr gesehen. Sie dachte noch jahrelang an Jackie Clancy. Er war der einzige Erwachsene, der Lola je zu verstehen gegeben hatte, dass die Geschichte ihrer Eltern eine Katastrophe war. Sowohl für sie, Lola, als auch für ihre Eltern.
Viele Jahre später bezahlte sie einer Reihe von Analytikern ein halbes Vermögen dafür, dass sie ihr dasselbe klarmach
ten. Und noch ein paar Jahre später erfuhr sie, dass Jackie Clancy während des Krieges geholfen hatte, Juden aus Deutschland zu schmuggeln.
Lola ging die 14 th Street entlang. Es war nicht einfach, herauszufinden, welche Geschäfte Tonbänder vorrätig haben könnten. Die 14 th Street war besonders heruntergekommen, und diese Schäbigkeit schien kaum zur Intellektualität der Stadt zu passen, war aber irgendwie auch integraler Teil davon. Überall baufällige Fassaden und verwahrlost wirkende Geschäfte. An einem trübe beleuchteten Imbiss hing ein handgemaltes Schild über dem Fenster, auf dem stand: »Pelzverkauf im ersten Stock«. Ein Pfeil deutete auf einen Hauseingang neben dem Imbiss. Lola schaute hinein. Es sah nicht so aus, als führte diese Treppe zu einem Pelzsalon. Doch New York steckte voller Überraschungen. Ein verwahrlostes Äußeres bot keinen zuverlässigen Hinweis auf das, was sich dahinter verbarg.
Lola mochte diesen Teil New Yorks sehr. Ihr gefiel, dass ein zwölfgeschossiges Gebäude unmittelbar neben einem dreigeschossigen und einem unbebauten Grundstück stehen konnte. Und dass diese billigen Imbissstuben offenbar sehr gutes Essen anboten und es an fast jeder Ecke einen jüdischen Delikatessenladen gab. Zu jeder Tages- und Nachtzeit konnte man sich Matzeknödel, Hühnersuppe oder ein Sandwich mit gehackter Leber kaufen. In Melbourne hatte Lola so etwas nie irgendwo anders bekommen als in einem Privathaushalt. Es war seltsam zu wissen, dass so viele Menschen hier gehackte Leber kannten.
Ein Ladeninhaber in der 14 th Street schlug Lola vor, es in der Canal Street zu versuchen. Sie machte sich auf den Weg dorthin. Die kurzen Ärmel ihres Kleides schnitten in ihre Oberarme. Lola hatte das Gefühl, die Ärmel seien enger als
beim letzten Mal, als sie dieses Kleid getragen hatte. Vielleicht lag es auch nur an der Feuchtigkeit.
Sie versuchte, die Ärmel mit der Hand zu dehnen. Die Luft war so feucht, dass sie sich sicher war, dass der Stoff sich dehnen würde. Doch die Zackenlitze gab nicht nach. Ihre Versuche, den Arm aus dem Schraubstock des Ärmels zu lösen, hinterließen rote Ringe auf ihrer Haut.
Sie musste zugenommen haben, dachte sie. Sie wog sich nie. Wenn sie zugenommen hatte, merkte sie das nur daran, dass ihre Sachen an verschiedenen Stellen ein bisschen zu eng wurden. Oder mehr als ein bisschen.
Lola betrachtete ihren Körper nie. Andere Mädchen bemerkten einen blauen Fleck an ihrem Bein oder einen Fleck auf dem
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