Lola Bensky
der Autorität. Sie strahlte Wohlstand aus und die Anspruchshaltung, die Wohlstand gelegentlich mit sich bringt. Von den anderen Habitués im The Scene, die meistens Kaftan trugen und oft alles andere als gepflegt wirkten, hob sie sich deutlich ab.
Linda war früher einmal Empfangsdame des Schickeria-Magazins Town and Country gewesen, und genauso sah sie aus. Nur drei Dinge passten nicht ins Bild. Zum einen die beiden Nikon-Kameras, die ihr immer um den Hals hingen. Zum zweiten ihre Entschlossenheit. Sie verfügte über eine Entschlossenheit, die in jeder Silbe und jedem Konsonanten mitschwang, die aus ihrem Mund kamen. Und dann war da noch ihre Sexualität, die nicht mit tiefen Ausschnitten oder transparenten Oberteilen zur Schau gestellt wurde, sondern sich darin zeigte, wie sie gewisse Popstars ansah. Ihr Blick war sehr direkt und zielsicher.
Lola wusste, dass Lindas Mutter vor fünf Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Da war Linda zwanzig. Einen Monat nach dem Tod ihrer Mutter war sie schwanger geworden. Drei Monate nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie geheiratet und sechs Monate später eine Tochter geboren, Heather. Lola fand es schwierig, sich die Abfolge dieser Ereignisse vor Augen zu führen, ohne sie zu einem gewissen Grad mit Mrs. Eastmans Tod in Verbindung zu bringen. Als Heather zweieinhalb war, ließ Linda sich von ihrem Vater scheiden.
»Könntest du dir wirklich vorstellen, in London zu leben?«, sagte Lola zu Linda.
»Ja«, sagte Linda. »Es war toll da. Ich mag die Engländer wirklich sehr.«
»Dann solltest du nach Australien kommen«, sagte Lola. »Dort wimmelt es von Engländern.«
»Dann muss dir London wie Zuhause vorgekommen sein«, sagte Linda.
»Nicht wirklich«, sagte Lola. »Die Engländer mögen die Australier eigentlich nicht. Ich glaube, sie halten uns für ihre ungehobelte Verwandtschaft.«
»Nur, dass wir nicht mit ihnen verwandt sind«, sagte Lillian. »Lolas Familie stammt nicht aus London, und meine auch nicht. Sie stammen aus Lemberg und aus Lodz. Lemberg liegt in der heutigen Ukraine und Lodz in Polen. Dreihundertachtzig Kilometer voneinander entfernt.«
»Kannten sich eure Verwandten denn?«, fragte Linda.
»Ich weiß es nicht«, sagte Lola.
»Ihr solltet sie fragen«, sagte Linda.
»Außer meinen Eltern habe ich keine Verwandten, die ich fragen könnte«, sagte Lola.
»Dann frag deine Eltern«, sagte Linda.
»Das wird sie tun«, sagte Lillian.
»Die Familie meines Vaters ist aus Russland«, sagte Linda.
»Ich dachte, dein Vater wurde in Amerika geboren«, sagte Lillian.
»Wurde er auch«, sagte Linda. »Gerade so. Meine Großeltern, Louis und Stella, lernten sich auf Ellis Island kennen, als ihre Papiere für die Einreise in die Vereinigten Staaten bearbeitet wurden. Mein Vater wurde ein Jahr später geboren.«
»Dann ist das der Grund, warum er so amerikanisch wirkt«, sagte Lillian. »Er kommt mir nicht besonders jüdisch vor. Du auch nicht. Du reitest gerne und liebst das Landleben. Du hast keine Angst vor Schlangen und Spinnen und liebst die Natur. Das ist überhaupt nicht jüdisch.«
»Wir waren jüdisch, haben aber nie großes Aufhebens darum gemacht«, sagte Linda. »Ich denke selten daran, dass ich Jüdin bin, wenn überhaupt.«
»Sie weiß kaum, was Pessach ist«, sagte Lillian.
»Das stimmt«, sagte Linda. »Mein Vater fühlte sich nicht besonders jüdisch. Vielleicht wollte er sich auch nicht jüdisch fühlen. Ich erinnere mich noch, dass er, als wir in East Hampton ein Strandhaus kauften, nicht wollte, dass allzu viele Juden sich dort Häuser kauften. Er meinte, das würde Antisemitismus provozieren.«
»Du meinst, noch mehr Antisemitismus«, sagte Lillian. »East Hampton liegt ungefähr 150 Kilometer von New York entfernt«, sagte Lillian zu Lola. »Dort befinden sich die riesigen, abgeschiedenen Landsitze der alten blaublütigen Familien. Sie fahren dorthin, wenn sie aus New York wegwollen. Und aus New York wegzuwollen, bedeutet immer auch, von den Juden wegzuwollen.«
»Für Antisemitismus braucht man keine Juden«, sagte Lola. »Man braucht nur Antisemiten. Das ist einer der Lieblingssprüche meines Vaters. Auf Jiddisch hört er sich sogar noch besser an.«
»Sprichst du Jiddisch?«, fragte Lillian.
»Ja«, sagte Lola.
»Linda weiß wahrscheinlich nicht einmal, was Jiddisch ist«, sagte Lillian.
»Doch«, sagte Linda. »Ich verstehe es nur nicht. Ich glaube, mein Vater wollte wirklich nichts mit seinem Judentum zu
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