Lola Bensky
tun haben.«
Selbst wenn sie es gewollt hätten, hätten Renia und Edek ihre jüdische Identität nicht ablegen können, dachte Lola. Ihre Qual, ihre Trauer und ihr Argwohn waren ihnen so deutlich ins Gesicht geschrieben, als wären sie aufgedruckt, ange
strahlt und vergrößert. Und ihre mangelnden Sprachkenntnisse besiegelten die Sache.
Später würde Lola erfahren, dass es viele Menschen gab, die nichts mit dem Judentum zu tun haben wollten. Lindas Vater, Mr. Louis Epstein, der zu Mr. Lee Eastman wurde, war nicht allein in seinem Wunsch, alles Jüdische zu tilgen.
Auch ein Teil Amerikas war eifrig darauf bedacht, nichts mit dem Judentum zu tun zu haben. Breckinridge Long, stellvertretender Minister und im amerikanischen Außenministerium zuständig für die Visavergabe, schrieb im Juni 1940 in einem Memorandum an seine Kollegen: »Wir können den Zustrom der Einwanderer in die Vereinigten Staaten für einen vorläufigen Zeitraum unbestimmter Dauer verzögern und wirkungsvoll stoppen. Möglich wäre dies, wenn wir unsere Konsuln kurzerhand anwiesen, alle denkbaren Hindernisse zu errichten, zusätzliche Belege zu fordern und Rekurs auf diverse administrative Verfahren zu nehmen, wodurch sich die Bewilligung von Visa immer wieder aufs Neue hinauszögern ließe.«
»Ein vorübergehender Zeitraum unbestimmter Dauer« war eine cleverere Formulierung, dachte Lola, als sie Breckinridge Longs Worte las. Breckinridge Long, ein wohlhabender Mann und persönlicher Freund Franklin Delano Roosevelts, war ein schlauer Mann.
Außerdem war er ein guter Lügner. Um die Umsetzung einer bereits eingebrachten Resolution der Regierung zur Gründung einer geheimen Dienststelle mit dem Ziel der Rettung jüdischer Flüchtlinge zu unterbinden, leistete er vor dem Foreign Affairs Committee des Kongresses eine Falschaussage. Er behauptete, es werde bereits alles zur Rettung jüdischer Flüchtlinge unternommen. Neunzig Prozent der Quotenplätze, die für Einwanderer aus von Nazis oder Fa
schisten beherrschten Ländern bereitgestellt worden waren, wurden nie in Anspruch genommen.
Nach seiner Pensionierung 1944 widmete sich Breckinridge seinem Interesse für Antiquitäten und Gemälde, dem Sammeln amerikanischer Schiffsmodelle, der Fuchsjagd, dem Angeln und dem Segeln. Außerdem unterhielt er einen Stall mit Vollblut-Rennpferden.
Der Nachtclub füllte sich allmählich. Lillian hatte Lola erzählt, The Scene und Max's Kansas City seien die beiden Orte, wo man hinging, um gesehen zu werden und all denen zu begegnen, denen man begegnen wollte. Linda sprach von ihren Pferden. Lola fragte sich, ob sonst jemand an diesem Abend in diesem Club von seinen Pferden redete. Vermutlich nicht. Sich über Pferde Gedanken zu machen oder von ihnen zu sprechen war etwas für reiche Leute, die nicht arbeiteten, dachte Lola. Weder Renia noch Edek würden jemals reich sein. Und sie konnten es sich nicht leisten, nicht zu arbeiten. Nicht zu arbeiten machte einen anfälliger für abwegige, anomale und abscheuliche Gedanken. Sobald solche Gedanken einmal entstanden waren, nisteten sie sich ein, und man wurde sie nie mehr los.
Im Hause Bensky waren Pferde nur dann ein Thema, wenn Renia erzählte, wie ihr zutiefst religiöser Vater ihr im Ghetto ein Stück Pferdefleisch gegeben hatte. Nach den orthodoxen Speisegesetzen war der Verzehr von Pferdefleisch verboten. »Er sagte zu mir: Ich kann dieses Fleisch nicht essen, aber du musst es essen. Es ist wichtiger zu leben, als koscher zu essen.« Meistens weinte Renia, wenn sie diese Geschichte erzählte.
Lola hatte für Lindas Liebe zu Pferden kein Verständnis. Sie konnte die Zuneigung der Menschen zu irgendwelchen Haustieren generell nicht verstehen, obwohl sie sich nicht si
cher war, ob Pferde in die Kategorie Haustier fielen. Sie schienen dafür zu groß zu sein. Sollten Haustiere nicht klein sein, so dass man sie auf den Arm nehmen und streicheln konnte? Vielleicht hatte das Streicheln aber auch gar nichts damit zu tun, ob man ein Tier auf den Arm nehmen konnte oder nicht.
Lola interessierte sich nicht für Pferde. Sie mochte nicht einmal Hunde oder Katzen. Als Lola ungefähr zehn Jahre alt war, brachte Edek aus dem Tierheim einen Hund mit nach Hause. Einen schwarzen Hund mit einem bösartigen Charakter. Weil der Hund schwarz war, taufte Edek ihn auf einen Namen, von dem er gehört hatte, dass er in Australien für schwarze Hunde gebräuchlich sei: Nigger.
Nigger bellte viel. Und war bissig. Hin und wieder
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