Lola Bensky
verlieren. Sie konnte das nicht. Sie war immer wachsam. Bereit. Bereit wofür? Für ein Pogrom? Einen Krieg? Die Gestapo? Sie wusste es nicht. Im Gegensatz zu vielen ihrer Altersgenossen konnte sie sich nicht entspannen und im Schlafanzug oder in Unterwäsche im Haus herumlaufen. Lola musste immer vollständig bekleidet sein. Und bereit. Bereit wofür? Lola hatte keine Ahnung.
In der Hitze von Jimi Hendrix' Garderobe begann Lolas Haar sich zu kräuseln. Sie versuchte, es zu glätten, indem sie an den Spitzen zupfte.
Jimi Hendrix redete seit ungefähr zehn Minuten. Er redete über den Unterschied zwischen einem Live-Auftritt und einer Einspielung im Aufnahmestudio. Lola versuchte angestrengt, sich zu konzentrieren. Sie wusste, dass sie sich nicht allzu sehr für die technischen Details seiner Musik interessierte. Wie er die Sounds hinkriegte, die er machte, und wie er mit Feedback experimentiert hatte und mit welchen Noten das am besten ging.
Lola hatte ihm diese Frage gestellt, weil sie wusste, dass es Leser von Rock-Out gab, die sich dafür interessierten. Aber sie hatte Schwierigkeiten, bei der Sache zu bleiben.
Sie hörte ihn mehrere Male sagen, dass er sich schnell langweile und dann gerne etwas anderes mache. Sowohl in seiner Musik als auch in anderen Bereichen seines Lebens. »Ich bleibe nicht gerne allzu lange an einem Ort«, sagte er. »Morgen bin ich vielleicht schon nicht mehr da, deshalb tue ich, was ich will.« Lola erschrak. Sie glaubte nicht, dass er, wenn er davon sprach, dass er morgen vielleicht nicht mehr da wäre, damit meinte, London zu verlassen. Sie dachte, er rede von der Möglichkeit, die Erde zu verlassen.
Lola stellte fest, dass sie nicht die Hälfte dessen mitbekom
men hatte, was Jimi Hendrix in den letzten zehn Minuten gesagt hatte. Sie warf einen Blick auf das Aufnahmegerät. Es war immer noch eingeschaltet und nahm auf. Sie war abgelenkt worden durch Einzelheiten über Feedbacks, die Netzstrumpfhose, die sich in ihre Schenkel schnitten, und ihr sich rasant kräuselndes Haar.
Jimi Hendrix' Haare waren wild. Die Locken wucherten auf seinem Kopf und wuchsen ungebärdig in alle Richtungen. Lola gefiel die ungezähmte Art, in der seine Locken einen üppigen Schopf bildeten. Ihre eigenen Locken waren geglättet. Plattgemacht. Jede Strähne wurde geplättet, bis sie flach war wie ein Brett. Flach anliegend und festgepappt. Bis zu diesem Moment, in dem Hitze und Feuchtigkeit des Zimmers einen ungezügelten Aufstand anzettelten. Ihre Locken sprangen auf. Standen merkwürdig ab. An merkwürdigen Stellen. Ohne Zusammenhang und ohne einen Gedanken daran, was das übrige Haar tat. Sie wusste, dass sie vermutlich komisch aussah. Doch es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.
Sie beschloss, sich auf Jimi Hendrix' Haar zu konzentrieren. »Ich habe gehört, Sie haben Lockenwickler«, sagte Lola zu ihm. Lola hatte das in einem Artikel gelesen, in dem davon die Rede war, wie sehr Jimi Hendrix sich über sein Aussehen Gedanken machte.
In Australien hießen Lockenwickler Roller. Alle Frauen im Alter ihrer Mutter hatten Lockenwickler. Und auch etliche von Lolas Freundinnen. Es war nicht ungewöhnlich, wenn man am Wochenende eine Freundin besuchte, die Freundin oder ihre Mutter mit einem Kopf voller Lockenwickler zu sehen. Lola hatte noch nie einen Mann mit einem Kopf voller Lockenwickler gesehen.
»Ja, ich habe Lockenwickler«, sagte Jimi Hendrix. »Ich ha
be meine Lockenwickler aus Amerika mitgebracht, als ich nach London kam. Es war praktisch alles, was ich mitgebracht habe.«
»Tatsächlich?«
»Meine Haare sind für mich wie meine Schals, meine Ringe und meine Jacken. Sie sind ein Teil meiner Person«, sagte er. Er lächelte und sah Lola an. »Daran ist nichts Merkwürdiges«, sagte er.
»Nein«, sagte Lola. »Es ist weniger merkwürdig als die Tatsache, dass ich meine Haare glätte. Ich lege sie auf ein Bügelbrett und bügle sie, den Kopf so tief gebeugt, wie ich kann, um jede einzelne Locke auszubügeln.«
»Sie machen das sehr gut«, sagte Jimi Hendrix. »Sie haben überhaupt keine Locken mehr.«
»Es war gut, bis sie angefangen haben, sich zu kräuseln«, sagte Lola.
»Miss Bensky, ich finde, Sie sehen ziemlich super aus«, sagte er.
Lola war verblüfft, zum einen, dass Jimi Hendrix sich an ihren Namen erinnerte, und zum zweiten, dass er nicht Lola, sondern Miss Bensky zu ihr sagte. Irgendetwas daran stand in sonderbarem Gegensatz zu dem, was er war, und wirkte eigentümlich
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