Long Reach
dem Abend keine Anrufe von dem Handy aus getätigt. Um spätestens 23.30 Uhr ist es uns gelungen, die SIM zu deaktivieren.«
»Gut«, sagte Napier.
»Das sagt aber nichts darüber aus, ob die SIM kopiert worden ist.« Über seine Papiere hinweg sah mir Hamish ins Gesicht.
»Also«, sagte ich, »Tommy Kelly hat von Computern oder Technik nicht die geringste Ahnung.«
»Soviel du weißt«, fügte Baylis scharf hinzu.
»Nein, hat er wirklich nicht. Da bin ich mir sicher. Ist nicht sein Arbeitsstil.«
»Ich an deiner Stelle würde die Klappe halten, während wir uns überlegen, wie wir verfahren«, sagte Napier. Erste Warnung. »Kann sein, dass er an dem bewussten Abend nichts unternommen hat, aber er wird seine Leute für so was haben. Nach allem, was wir wissen, hat er das Telefon immer noch und lässt es vielleicht gerade in diesem Moment auseinandernehmen.«
Ich wusste nichts zu antworten. Ich hatte zugelassen, dass unsere Hotline in Feindeshand geraten war.
»Also …«, sagte Baylis nach einiger Zeit, die Augen auf Tony geheftet. »Ich denke mal, damit wären meine Vorbehalte, ein Kind auf den Job anzusetzen, voll gerechtfertigt.«
Bei Tony und mir meldete sich der Zorn. Tony lief rot an. »Das ist jetzt ein bisschen heftig, Ian«, sagte er vorsichtig. »Okay, er hat einen schweren Fehler gemacht, aber er hat auch in kürzester Zeit eine Menge verdammt guter Arbeit abgeliefert. Durch ihn sind wir so nah am Herz dieser Organisation wie nie zuvor.«
»Und jetzt hat er’s an die Wand gefahren.«
»Nicht zwangsläufig«, fuhr Tony fort. Sie sprachen über mich, als wäre ich gar nicht im Raum, aber ich war froh,dass Tony so für mich in die Bresche sprang – besonders, weil ich wusste, wie wahnsinnig sauer er auf mich war.
»Ich glaube, diese Diskussionen tragen nichts zur Sache bei«, sagte Napier und hob die Hand, um beide zum Schweigen zu bringen. »Dringender ist jetzt die Frage, was wir mit Savage machen. Wenn wir ihn vom Fall abziehen, müssen wir ihn verschwinden lassen.«
Mein Magen zog sich zusammen. Die Vorstellung, »verschwinden gelassen« zu werden, gefiel mir überhaupt nicht, was immer das heißen sollte.
»Das würde heißen, ihn in ein anderes sicheres Haus zu schicken«, fuhr Napier fort. »Das in Aberdeen vielleicht – schön abgelegen. Wieder eine neue Identität und so weiter.«
Langsam bekam ich Angst.
»Oder«, schlug Tony vor, »wir könnten ihn erst mal zurück in die Wohnung lassen, er hält ein paar Tage lang den Ball flach, wartet mal ab, ob was passiert, und dann treffen wir die Entscheidung?«
Sie dachten einen Moment darüber nach.
»In Ordnung, einverstanden – bis Ende der Woche«, sagte Napier. »Bis dahin wissen wir, ob es irgendwelche Folgen gegeben hat. Alles auf Alarmstufe Rot.«
Alarmstufe Rot – höher ging es nicht.
Wahrscheinlich verfluchten sie mich innerlich allesamt, aber ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Hamish Campbell schob mir ein neues kleines Handy über den Tisch zu. »Deine neue Hotline«, sagte er. »Verlier sie nicht.«
Tony fuhr mich in einem silbernen Auto mit verdunkelten Scheiben zurück. Sie gingen wirklich kein Risiko ein. Währendder Fahrt sprach Tony sehr wenig. Ich war völlig überwältigt von der Enttäuschung, die er ausstrahlte, der Enttäuschung, wie ich nur einen so elementaren Fehler hatte machen können. Vor der Wohnung in Deptford ließ er mich raus.
»Bleib in Deckung«, sagte er. »Nicht das Haus verlassen, keinen Kontakt zu irgendwem außer mir und Ian. Das iPhone hast du ja noch, oder?« Ich wollte gerade witzeln, dass ich das auch verloren hatte, aber das war jetzt nicht der Augenblick. »Nur, wenn du selbst angerufen wirst, kapiert?«
Ich nickte. »Tut mir leid, Tony. Ich versuch, es wiedergutzumachen.«
Er zuckte die Schultern und stieg wieder ins Auto. »Weitere Anweisungen abwarten«, sagte er.
Lange brauchte ich nicht zu warten. Den Nachmittag verbrachte ich mit einem Kriegsfilm auf DVD:
Der Soldat James Ryan.
Oder
Der Soldat James reihert
, wie Steve immer gesagt hatte. Ein guter Film: hart, mutig und voll mit brüderlicher Liebe und Loyalität. Genau das, was mir fehlte. Ich fragte mich, was Steve von meinem Komplettversagen gehalten hätte. Und dann, gegen fünf, klingelte auf einmal mein iPhone. Es war Sophie.
Es gab tatsächlich weitere Anweisungen, aber nicht von Tony und auch nicht von Baylis.
»Dad will dich sehen«, verkündete sie. »Morgen früh.«
Ich wurde
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