Lord der toten Seelen: Royal House of Shadows (German Edition)
Albtraumgesicht zu ihm hoch. Sein Blick richtete sich auf das Fenster, aus dem Micah ihn beobachtete. Er verspürte den kindlichen Drang, sich zu verstecken, sich abzuwenden, und doch sah er dem Magier in die Augen, Augen wie schmutziges Eis, sah, wie seine Lippen Worte formten: „Ich kriege dich,
Junge
.“
„Nein“, flüsterte Micah. „Das wirst du nie.“
20. KAPITEL
D ie Erinnerung verflog, aber sie war jetzt wieder vollständig und wartete nur darauf, von ihm angesehen zu werden. Als die Arachdem, die nicht aufgespießt worden waren, kreischten und sich zurückzogen, den Kampf aufgaben, öffnete er diese Tür in seinem Bewusstsein einen Spalt weit. Namen und Orte, Düfte und Geräusche und Schmerz, solcher
Schmerz
, durchfuhren ihn. Er war durch Raum und Zeit selbst geschleudert worden, sein Körper in einem Zauber gefangen, der ihn beschützen sollte, gesprochen aus Verzweiflung, als Elden gefallen war.
Der Zauber seiner Mutter hatte in einer kühlen ruhigen Kammer unter der Schwarzen Burg seinen unerwarteten Ausdruck gefunden, wo, hieß es, der neue Wächter immer dann erschien, wenn seine Zeit gekommen war. Aber er war bei seiner Ankunft noch zu jung gewesen und hatte viele Jahre im Schlaf verbracht. Er war erst aufgewacht, als er seiner Aufgabe gerecht werden konnte. Von dem alten Lord wusste er nur, was die Geister ihm berichtet hatten – dass er sich entschlossen hatte, an den Ort seiner Herkunft zurückzukehren, um den Rest seines Lebens weit entfernt vom Abgrund zu verbringen.
Aber nichts davon war jetzt wichtig. Wichtig waren nur die Augen wie schmutziges Eis.
Als er sicher war, dass die Spinnen nicht neuen Mut fassen und zurückkehren würden, fuhr er die Dornen, die er aus den Elementen der Erde geformt hatte, wieder ein. Sein erschöpfter Körper wurde nur noch durch reine Willenskraft aufrecht gehalten, als er sich umdrehte, um sich der Frau zu stellen, die sich gerade hinter ihm aufrappelte. Die Sorge in ihrer Miene versuchte sie nicht zu verbergen. Doch er hielt sie mit ausgestreckter Hand auf, ehe sie ihn berühren konnte.
Diese Augen … diese
Augen
sahen ihn an, als würden sie begreifen, und wurden trüb und leer. „Du weißt es.“
„Du hast mich belogen, Liliana.“ Er hatte den sturmverhangenen Himmel in diesen wandelbaren Augen gesehen, doch sie waren die ganze Zeit nur voller Lügen gewesen.
Sie zuckte zusammen, blieb aber stumm.
„Du hast mir nicht gesagt, dass dein Vater der Magier ist, der meinen Eltern das Leben genommen hat.“ Er konnte noch nicht nach Nicolai, Dayn und Breena fragen.
Sie schluckte und ballte die Hände zu Fäusten. „Du musstest mir vertrauen, damit du dich erinnerst.“
„Warum?“ Etwas nagte an ihm, wie ein Traum, an den er sich nur halb erinnerte.
„Der zwanzigste Jahrestag von Eldens Untergang steht kurz bevor“, sagte Liliana und schlang die Arme um sich. „Du musst vor Mitternacht an diesem Tag bei der Burg sein.“
Micah packte ihre Oberarme. „Warum?
Sag es mir
.“
„Um Mitternacht wird Elden sterben … und mit ihm deine Geschwister.“ Statt sich aus seinem groben Griff zu befreien, legte sie zögernd die Hände auf seine Brust. „Nach dem heutigen Tag sind nur noch zwei Tage übrig, und die Straße nach Elden ist lang und voller Gefahren. Ich kann dich vielleicht den halben Weg bringen, wenn ich den Zauber benutze, der mich hergebracht hat, aber das laugt mich aus – und ich muss an deiner Seite kämpfen, denn mein Vater ist ein böser Mann, voller Macht.“
Er ließ sie los und wich vor ihrer Berührung zurück. Schmerz trat in ihre Augen, der ihn wütend machte, aber er war auch so wütend auf sie, dass es ihm in seiner Heftigkeit fast die Sprache verschlug.
„Ich weiß“, flüsterte sie mit gebrochener Stimme. „Ich weiß, was ich dir genommen habe. Ich erwarte nicht, dass du noch wie vorher für mich empfindest, jetzt, wo du weißt, wessen Blut in meinen Adern fließt, aber
bitte
, Micah, du musst mir glauben. Du musst, sonst ist deine Familie für immer verloren.“
„Es geht nicht um dein Blut“, sagte er und erhob sich in die Luft, gestärkt durch die mächtige Magie des Abgrunds. „Sondern darum, dass du mich belogen hast.“
Liliana sah Micah nach, wie er in den Wolken verschwand, getragen von den ledernen Schwingen, die wie aus dem Nichts entstanden waren. Sie wusste, dass er Jagd auf die letzten Arachdem machte, damit sie nicht zurückkehrten. Aber er wollte auch Abstand zu ihr gewinnen – der
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