Loretta Chase
er. »Bailey soll dir etwas
anziehen, das nicht so leicht verschmutzt und weniger ... weniger ...«, er
deutete auf ihr Dekolleté, »... luftig ist. Aber beeil dich. Ich gebe
dir genau eine Viertelstunde. Wenn du dann nicht fertig bist, gehe ich ohne
dich.«
Fünfzehneinhalb Minuten später
»Hosen«, stellte Lisle grimmig fest.
Gerade noch
rechtzeitig war sie zur Tür herausgestürmt. Er stand schon draußen, zum
Aufbruch bereit – ohne sie. Genau wie sie vermutet hatte.
»Du hast
gemeint, ich solle mir etwas Vernünftiges anziehen«, sagte sie, noch immer ganz
außer Atem von dem aberwitzigen Unterfangen, sich in einer Viertelstunde
umzuziehen. »In einem Kleid könnte ich niemals durch enge Gänge kriechen.«
»Du wirst
auch nicht durch enge Gänge kriechen«, versicherte er ihr.
»Für Frauen
kann es dieser Tage schnell zu eng werden«, meinte sie. »Falls es dir nicht
aufgefallen sein sollte, aber die Damenmode ist etwas ausladender als früher.
Die meisten meiner Ärmel sind so riesig wie Butterfässer. Wahrscheinlich konnte
sogar Urgroßmama in ihren Reifröcken sich noch behänder bewegen.«
»Wenn du
hierbleiben und die Suche mir überlassen würdest, müsstest du dich nicht in
Kleider zwängen, die nicht den weiblichen Formen entsprechen.«
»Verstehe«,
sagte sie. »Du findest, dass ich einen dicken Hintern habe.«
»Das habe
ich nicht gesagt. Aber du bist nun mal nicht wie ein Mann gebaut. Niemand würde
dich jemals für einen halten – auch nicht in Hosen. Mein Gott, was verschwende
ich hier meine Zeit mit Reden! Du tust ja doch nicht, was ich sage.« Er drehte
sich um und ging los.
Olivia
folgte ihm.
Er hatte
schreckliche Laune, und das, so wusste sie, war in nicht geringem Maße ihr zu
verdanken. Sie hatte ihn zu grausam früher Stunde aus dem Schlaf gerissen, und
das nach einem langen Tag und einer nicht minder langen Nacht ... nach einem
ausgesprochen aufwühlenden Zwischenfall ... an den sie lieber nicht denken
wollte. Sie war wütend gewesen, auf eine Weise, die sie selbst kaum verstand.
Was sie
heute Morgen getan hatte, war in etwa so, als hätte sie ihm aus sicherer
Entfernung die Zunge herausgestreckt. Kindisch, sehr kindisch. Doch sie wusste
weder ein noch aus – was ihr höchst selten geschah –, und das machte sie
wütend. »Es geht nicht darum, mich als Mann auszugeben«, sagte sie. »Ich wollte
nur etwas anziehen, das praktisch und bequem ist. Du meintest, ich solle etwas
Vernünftiges anziehen, und Frauenkleider sind nun mal nicht vernünftig. Und sie
werden mit jedem Jahr unvernünftiger. Ein vernünftiger Mann indes hätte sich
denken können, dass es einer Frau schlicht unmöglich ist, sich binnen
einer Viertelstunde eines Kleides zu entledigen und ein anderes anzuziehen. Es
wäre dir ganz recht geschehen, wenn ich einfach im Hemd nach unten gekommen
wäre.«
Er zuckte
die Schultern. »Sei’s drum. Es ist ja keineswegs so, als hätte ich dich nicht
schon im Hemd gesehen.«
»Wenn du
letzte Nacht meinst, da habe ich ein Nacht hemd getragen«, klärte sie ihn
auf. Und wehe, du fängst jetzt an, über letzte Nacht zu reden. Dazu bin ich
noch nicht bereit .
»Hemd ist
Hemd«, sagte er.
»Deine
Erfahrung scheint sich in Grenzen zu halten, sonst würdest du den Unterschied
sofort erkennen«, sagte sie.
»Ich bin
ein Mann«, meinte er. »Was kümmern uns die feinen Unterschiede der
Frauenkleider? Wir sehen nur, ob Frauen viel oder wenig tragen. Und ich hatte
den Eindruck, du würdest vergleichsweise wenig tragen.«
»Verglichen
womit?«, fragte sie. »Mit deinen Ägypterinnen? Das kann man ja wohl nicht
vergleichen: Entweder verhüllen sie sich bis zum Haaransatz oder sie tanzen
halbnackt durch die Gegend. Was ich damit sagen will ...«
»Da lang«,
sagte er und bog in den St. Helen’s Square ein, wo es gleich etwas lichter war
als in der schmalen Coney Street.
Als sie die
»York Tavern« passierten, sah sie zu den dunklen Giebeln auf, die sich gegen
den sternenfunkelnden Himmel abhoben.
Kurz darauf
hatten sie den Platz überquert, bogen in die Blake Street ein und nach ein paar
Schritten in Stonegate, eine der für York typischen schmalen Gassen. »Was ich
damit sagen will«, fuhr sie fort, »ist, dass es Frauen in Situationen wie
dieser gestattet sein sollte, Hosen zu tragen.«
»Und ich
will sagen«, erwiderte er, »dass Frauen sich gar nicht in Situationen begeben
sollten, in denen sie Hosen tragen müssten.«
»Was du
nicht sagst. Tante Daphne trägt auch
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