Lotterie der Liebe
bedrückend wie die der Leute im Elendsviertel von Whitechapel. Sogar heute beim Besuch bei Mrs. Wendover war Amy wieder über die tapferen Versuche der Witwe, inmitten des sie umgebenden Schmutzes ein sauberes Haus zu behalten, erschüttert gewesen. Sie unterdrückte ein Grinsen. Es gab nicht viele junge Damen, die von sich behaupten konnten, in Whitechapel gewohnt zu haben. Sie hatte jedoch schon zweimal dieses Privileg gehabt. Beim letzten Mal war sie sechzehn gewesen. Die finanzielle Lage war so prekär gewesen, dass es keine Alternative gegeben hatte. Jetzt konnte man sich zumindest ein kleines Haus in einem anständigen Stadtviertel leisten. Whitechapel war keine gute Gegend, der Aufenthalt dort jedoch sehr lehrreich gewesen. Geistesabwesend erstickte Amy das schwach brennende Feuer mit einer Schaufel Asche und dachte an die Zeit, die sie in dem Elendsviertel verbracht hatte.
Ein Stück Papier lag neben dem Kamin auf dem Teppich. Sie bückte sich und hob es auf. Es war ein Lotterielos. Sie wusste, dass Richard wie ein Großteil der Bevölkerung oft bei der nationalen wie auch bei privaten Lotterien mitspielte, bei denen Geldmittel für verschiedene Projekte eingenommen wurden. Soweit ihr bekannt war, hatte er nie etwas gewonnen. Es war nur eine weitere Art von Glücksspiel, bei dem er sein Geld verschleuderte.
Sie strich das zerknitterte Papier glatt. Die Ziehung sollte am nächsten Vormittag stattfinden. Richard musste das Los aus der Tasche verloren haben, ohne es zu bemerken. Amy steckte es hinter die Kaminuhr und nahm sich vor, es ihm morgens zurückzugeben. Sie war zwar strikt gegen Glücksspiele, aber etwas hinderte sie daran, das Los ins Feuer zu werfen. Schließlich konnte es einen Gewinn einbringen. Über den eigenen Optimismus lächelnd, ging sie Prudence suchen.
Am nächsten Tag holte Amy das Los hinter der Uhr hervor und suchte in der Absicht, es Marten auszuhändigen, damit dieser es ihrem Bruder zukommen lassen konnte, das Entree auf. Glücklicherweise kam der Kammerdiener soeben mit einem von Richards Gehröcken über dem Arm die Treppe herunter. Er verbeugte sich. Er erlaubte sich nie solche Freiheiten wie Prudence, sondern war immer sehr respektvoll.
“Guten Morgen, Marten. Ist mein Bruder schon wach?”
Der Kammerdiener verbeugte sich erneut. Seine Miene war ausdruckslos. “Ich befürchte, er ist noch nicht zurück, Madam. Der Ball hat wohl bis in die frühen Morgenstunden gedauert.”
“Ich vermute eher, Richard hat eine dringende Verabredung in einem Spielsalon.” Amy bedachte den Kammerdiener mit einem scharfen Blick, den Marten jedoch unbeteiligt erwiderte.
“Schon möglich, Madam. Das kann sein.”
“Oder vielleicht hat er die Nacht woanders verbracht?” Amy erinnerte sich an das zweifelhafte Etablissement, aus dem der Earl of Tallant am vergangenen Tag gekommen war. Marten lächelte höflich.
“Dazu kann ich nichts sagen, Madam.”
Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. Es war ärgerlich, dass ihr Bruder ausgerechnet jetzt, wo sie ihn sehen wollte, nicht anwesend war. Da die Lotterieziehung an diesem Vormittag stattfand, musste sie Richard das Los unverzüglich aushändigen. Sie wusste nichts über Lotterien, befürchtete jedoch, dass man den Gewinn gleich bei der Ziehung beanspruchen müsse. Richard würde nicht darüber hinwegkommen, wenn er das Geld nicht einstreichen konnte, weil er das Los zu Hause gelassen hatte.
Sie seufzte, steckte das kleine Stück Papier in die Tasche, nahm es wieder heraus und schaute es erneut an. Es hatte etwas Verführerisches. Amy verspürte eine gewisse Aufregung. Vielleicht konnte man damit zu einem Vermögen kommen. Kein Wunder, dass Leute sogar ernsthaft darum beteten zu gewinnen und ihren letzten Penny für ein Los ausgaben. Sie lächelte über ihre abwegigen Gedanken. Zum ersten Mal hatte sie sich versucht gefühlt, an einem Glücksspiel teilzunehmen, und die Absicht schwand so schnell, wie sie sie gehabt hatte.
Der Kammerdiener wartete immer noch ehrerbietig, wie er ihr behilflich sein könne. Amy hielt ihm das Los hin.
“Dies hier muss umgehend in die Hände meines Bruders gelangen, Marten”, sagte sie. “Haben Sie eine Ahnung, wo er heute Morgen sein könnte?”
Marten schüttelte den Kopf. “Ich bedaure, nein, Madam. Gestern Abend hat Ihr Bruder mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht die Absicht hat, vor dem Mittag nach Hause zu kommen, wenn überhaupt. Er kann überall sein, Madam.”
Sie zögerte. “Wissen
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