Love
Vergan genheit zu inhalieren.
»Sie wird durch einen dünnen Schlauch ernährt«, sagte Darla. »Der wird eingeführt und anschließend wieder rausgezogen. Wenn sie nicht bald von allein anfängt zu essen, lassen sie ihn wahrscheinlich die ganze Zeit drin.« Sie schniefte laut und wässrig. »Sie wird durch eine Sonde ernährt, dabei ist sie schon so dünn, und sie will nicht reden, und ich habe mit einer Krankenschwester gesprochen, die gesagt hat, dass sie manchmal jahrelang so bleiben, dass sie manchmal über haupt nicht zurückkommen, o Lisey, das könnte ich nicht ertragen , glaub ich!«
Lisey lächelte schwach, während sie nach den Scharnieren auf der Rückseite des Deckels tastete. Es war ein Lächeln der Erleichterung. Dies war Darla die Hochdramatische, Darla die Diva, und das bedeutete, dass sie wieder sicheren Boden unter den Füßen hatten: zwei Schwestern mit jeweils einem abge griffenen Drehbuch in den Händen. An einem Ende der Lei tung Darla die Empfindsame. Applaus für sie, meine Damen und Herren. Am anderen Ende Little Lisey, klein, aber zäh. Beifall auch für sie.
»Ich fahre heute Nachmittag hinüber, Darla-Darlin', und rede noch mal mit Dr. Alberness. Bis dahin haben sie schon eine genauere Vorstellung von ihrem Zustand …«
Darla (zweifelnd): »Glaubst du wirklich?«
Lisey (im Grunde genommen ahnungslos): »Unbedingt. Und du solltest jetzt nach Hause fahren und in deinem eigenen Wohnzimmer die Füße hochlegen. Vielleicht ein Nickerchen in deinem eigenen Bett machen.«
Darla (in hochdramatischem Ton): »O Lisey, ich könnte nie mals schlafen!«
Lisey war es egal, ob Darla aß, sich einen Joint reinzog oder zum Scheißen in die Begonien ging. Sie wollte nur dieses Gespräch beenden. »Nun, du solltest jedenfalls heimfahren, Schätzchen, und dich ein bisschen ausruhen. Entschuldige, aber ich muss jetzt auflegen – ich habe etwas im Backofen.«
Darla war augenblicklich entzückt. »O Lisey! Du?« Lisey fand das äußerst ärgerlich, als hätte sie in ihrem Leben noch nie etwas Anspruchsvolleres gekocht als … nun, als Hamburger Helper. »Backst du Bananenbrot?«
»Beinahe. Preiselbeerbrot. Ich muss nachsehen, wie weit es schon ist.«
»Aber du kommst später vorbei, um Manda zu besuchen, nicht wahr?«
Lisey hätte am liebsten geschrien. Stattdessen sagte sie: »Klar. Heute Nachmittag.«
»Na ja, dann …« Die Zweifel waren wieder da. Überzeuge mich, sagten sie. Bleib noch eine Viertelstunde oder länger am Telefon und überzeuge mich. »Dann werde ich jetzt wohl heimfahren.«
»Richtig! Bye, Darl.«
»Und du findest wirklich nicht, dass es falsch war, dass ich Canty angerufen habe?
Nein! Ruf Bruce Springsteen an! Ruf Hal Holbrook an. Ruf Condi Smucking Rice an! Aber LASS MICH IN RUHE!
»Durchaus nicht. Ich finde es gut, dass du's getan hast. Damit sie …« Lisey dachte an Amandas »Kleines Notizbuch« mit den zwanghaften Eintragungen. »Damit sie auf dem Lau fenden ist, weißt du.«
»Nun … okay. Wiederhören, Lisey. Dann bis demnächst.«
»Bye, Darl.«
Klick.
Endlich.
Lisey schloss die Augen, klappte die Schatulle auf und atmete den starken Zederngeruch ein. Einen Augenblick lang gestattete sie sich, wieder eine Fünfjährige zu sein: in von Darla geerbten Shorts und ihren eigenen abgewetzten, aber heiß geliebten Li'l-Rider-Cowboystiefeln, denen mit den ver blassten rosa Applikationen an den Seiten.
Dann blickte sie in die Schatulle, um zu sehen, was sie ent hielt und wohin es sie führen würde.
Obenauf lag ein Päckchen aus Alufolie, fünfzehn bis zwanzig Zentimeter lang, ungefähr zehn Zentimeter breit und zwei Zentimeter hoch. Daraus ragten zwei Klumpen hervor und wölbten die Folie auf. Lisey hatte keine Ahnung, was in dem Päckchen war, als sie es heraushob und einen geisterhaf ten Hauch von Pfefferminz wahrnahm – hatte sie den nicht bereits trotz des Zederndufts der Schatulle gerochen? –, er innerte sich dann aber wieder, noch bevor sie eine Seite auf faltete und das steinhart gewordene Stück Hochzeitstorte sah. Darin eingelassen waren zwei Plastikfiguren: ein Junge in Frack und Zylinder und ein Mädchen in einem weißen Hoch zeitskleid. Eigentlich hatte sie damals vorgehabt, dieses Tor tenstück ein Jahr lang aufzuheben und es am ersten Hoch zeitstag gemeinsam mit Scott zu verzehren. Entsprach das nicht einem alten Aberglauben? Dann hätte sie es in die Gefriertruhe legen sollen. Stattdessen war es hier gelandet.
Lisey brach ein kleines Stück
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