Love
die Felsenmulde, in der er lag, sah die Landzunge mit sauberem weißem Sand und darüber die Steinbänke auf sanft geschwungenen Terrassen, sah die Kluft in dem Felsen und den zweiten Weg, der sich zum Friedhof hin schluchtartig verengte. Sie ließ das Wasser blau leuchten, glitzernd von Tausenden und Abertausenden von Sonnenrefle xen, denn sie stellte sich den Pool mittags vor, weil sie von Boo'ya-Mond in der Abenddämmerung genug hatte, schönen Dank auch.
Jetzt, dachte sie und wartete darauf, dass die Luft sich verändern, die Geräusche von Greenlawn verhallen würden. Einen Augenblick lang glaubte sie, die Geräusche würden leiser, aber das war offenbar doch nur Einbildung. Als sie die Augen öffnete, war die Veranda wie zuvor da – hirun jetz –, und Amandas »Früchtegold« stand auf dem runden Tisch; in ihrer tiefen katatonischen Gelassenheit verhar rend, glich Amanda einer atmenden Wachsfigur in ihrem minzgrünen Pyjama, der Klettverschlüsse hatte, weil man Knöpfe verschlucken konnte. Amanda mit dem dazu passen den grünen Band in den Haaren und den Ozeanen in den Augen.
Sekundenlang wurde Lisey von schrecklichen Zweifeln befallen. Vielleicht war diese ganze Sache nur eine Folge ih rer Verrücktheit – das heißt, alles bis auf Jim Dooley. Es gab keine verkorksten Familien wie die Landons außerhalb von Romanen von V. C. Andrews, keine Orte wie Boo'ya-Mond außerhalb von Kindermärchen. Sie war mit einem Schriftstel ler verheiratet gewesen, der gestorben war, das war alles. Sie hatte ihn einmal gerettet, aber als er vierzehn Jahre später in Kentucky erkrankt war, hatte sie nichts tun können, um ihm zu helfen, denn einem Virus konnte man keinen Schlag mit einem Spaten verpassen, nicht wahr?
Sie wollte Amandas Hände loslassen, doch dann packte sie fester zu. Ihr starkes Herz und ihre beträchtliche Willenskraft begehrten gemeinsam auf. Nein! Alles war real! Boo'ya-Mond ist real! Ich war 1979 dort, bevor ich ihn geheiratet habe, ich bin 1996 wieder hinübergegangen, um ihn zu finden, als er gefunden werden musste, um ihn zu holen, als er heimgeholt werden musste, und erst heute Morgen war ich wieder dort. Beim geringsten Zweifel daran muss ich nur den Zustand meiner Brust, als Jim Dooley endlich von ihr abgelassen hat, mit ihrem jetzigen Zustand vergleichen. Ich kann nur nicht wieder hin, weil …
»Die Häkeldecke«, murmelte sie. »Er hat gesagt, die Decke würde uns aus unerklärlichen Gründen wie ein Anker dort festhalten. Hältst du uns hier fest, Manda? Hält irgendein ängstlicher, störrischer Teil deines Ichs uns hier fest? Hältst du mich hier fest?«
Amanda gab keine Antwort, trotzdem war Lisey überzeugt, dass genau dies der Fall war. Ein Teil von Amanda wollte, dass Lisey kam und sie heimbrachte, aber es gab einen ande ren Teil, der nicht gerettet werden wollte. Dieser Teil wollte wirklich nichts mehr mit der schmutzigen Welt und ihren ganzen Problemen zu schaffen haben. Dieser Teil war vollauf damit zufrieden, durch einen Schlauch ernährt zu werden, in Windeln zu kacken, warme Nachmittage hier auf der kleinen Veranda zu verbringen, einen Pyjama mit Klettverschlüssen zu tragen und auf den grünen Rasen mit den Krocketspielern hinauszustarren. Und was starrte Manda wirklich an?
Den Pool.
Den Pool am Morgen, den Pool am Nachmittag, den Pool bei Sonnenuntergang und unter einem Sternenhimmel und im Mondlicht glitzernd, während von seiner Oberfläche leichte Dunstschleier wie Träume von Amnesie aufstiegen.
Lisey merkte, dass sie noch immer den süßen Geschmack im Mund hatte, ein Geschmack, der sich sonst bald nach dem Aufstehen verlor, und dachte: Der stammt aus dem Pool. Meine Belohnung. Mein Getränk. Zwei Schlucke. Einer für mich, und einer …
»Einer für dich«, sagte sie. Der nächste Schritt stand ihr plötzlich so klar vor Augen, dass sie sich fragte, weshalb sie so viel Zeit vergeudet hatte. Während sie Amanda weiter an den Händen hielt, beugte Lisey sich nach vorn und brachte so ihr Gesicht vor das ihrer Schwester. Unter ihren gerade geschnittenen ergrauenden Stirnfransen blieben Amandas Augen unscharf, auf die Ferne eingestellt, als blickte sie geradewegs durch Lisey hindurch. Erst als Lisey ihre Hände zu Amandas Ellbogen hinaufgleiten ließ, um sie dort quasi festzunageln, und dann ihren Mund dem ihrer Schwester näher te, weiteten Amandas Augen sich in verspätetem Begreifen; erst jetzt versuchte Amanda, sich zu wehren, aber da war es bereits zu spät. Süße
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