Love
hässlichen Schnitt und das Glänzen frisch aufgetragener Salbe sehen. Lisey hatte drei verschiedene Gesprächseröffnungen versucht, und Amanda hatte mit keinem einzigen Wort darauf reagiert. Was nach Auskunft der Schwester das Übliche war. Amanda war gegenwärtig nicht ansprechbar, nahm keine Gespräche an, war zum Lunch ausgegangen, machte Urlaub, besuchte den Asteroidengürtel. Sie war ihr Leben lang schwierig gewesen, aber selbst für ihre Verhältnisse war dies ein neuer Höchststand.
Lisey, die in nur sechs Stunden im Büro ihres Mannes Besuch erwartete, hatte dafür keine Zeit. Sie nahm noch einen Schluck von ihrem faden Getränk, wünschte sich eine Cola – hier wegen des Koffeins verboten – und stellte den Becher weg. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass sie allein waren, beugte sie sich nach vorn, griff nach Amandas Hän den und bemühte sich, bei dem glitschigen Gefühl der Salbe und den knotigen Linien der dicht darunter heilenden Schnitte nicht zusammenzuzucken. Falls es Amanda wehtat, so angefasst zu werden, ließ sie sich nichts davon anmerken. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos glatt, als würde sie mit offenen Augen schlafen.
»Amanda«, sagte Lisey. Sie versuchte, Blickkontakt mit ihrer Schwester herzustellen, aber das war unmöglich. »Amanda, hör mir jetzt zu. Du wolltest mir helfen, Scotts Nachlass zu ord nen, und ich brauche dabei deine Hilfe. Du musst mir helfen.«
Keine Antwort.
»Es gibt einen bösen Mann. Einen verrückten Mann. Er hat gewisse Ähnlichkeit mit diesem Hurensohn Cole in Nash ville – er ist ihm sogar sehr ähnlich –, doch mit ihm werde ich nicht allein fertig. Du musst von dort, wo du jetzt bist, zu rückkommen und mir helfen.«
Keine Antwort. Amanda starrte zu den Krocketspielern hin über. Durch die Krocketspieler hindurch. Der Rasenmäher rat terte. Ihre Pappbecher mit »Früchtegold« standen auf einem runden Verandatisch, denn Ecken waren hier ebenso verboten wie Koffein.
»Weißt du, was ich glaube, Manda-Bunny? Ich glaube, dass du mit den übrigen weggetretenen Gomern auf einer dieser Steinbänke sitzt und auf den Pool hinausstarrst. Ich glaube, dass Scott dich bei einem seiner Besuche dort sitzen gesehen und sich gesagt hat: ›Oh, wieder eine, die sich schneidet. Sol che Leute erkenne ich, weil mein Dad auch zu diesem Stamm gehörte. Teufel, ich gehöre selbst dazu.‹ Er hat sich gesagt: ›Da sitzt eine Lady, die sich frühzeitig hierher zurückziehen wird, wenn ihr nicht jemand gewissermaßen einen Knüppel in die Speichen steckt.‹ Klingt das ungefähr richtig, Manda?«
Nichts.
»Ich weiß nicht, ob er Jim Dooley vorausgesehen hat, aber dich hat er so sicher in Greenlawn enden gesehen, wie Schiet an einer Wolldecke klebt. Weißt du noch, wie Dandy das manchmal gesagt hat, Manda? So sicher, wie Schiet an einer Wolldecke klebt. Und wenn Good Ma ihn deswegen aus schimpfen wollte, hat er gesagt, Schiet wäre wie verflixt, Schiet wäre kein richtiges Fluchwort. Weißt du noch?«
Noch mehr nichts von Amanda. Nur das leere Starren, das einen ganz verrückt machte.
Lisey dachte an die kalte Nacht mit Scott im Gästezimmer, als der Sturm heulte und der Himmel brannte, und brachte ihre Lippen dicht an Amandas Ohr heran. »Drück meine Hän de, wenn du mich hören kannst«, flüsterte sie. »Drück sie, so fest du kannst!«
Sie wartete und die Sekunden verstrichen. Lisey wollte schon aufgeben, als das leiseste Zucken kam. Es hätte eine unwill kürliche Muskelbewegung oder nur Einbildung sein können, aber das glaubte sie nicht. Sie war überzeugt, dass Amanda an irgendeinem fernen Ort gehört hatte, wie ihre Schwester ihren Namen rief. Sie nach Hause rief.
»Schön«, sagte Lisey. Ihr Herz hämmerte so sehr, dass sie fürchtete, daran zu ersticken. »Das ist gut. Das war ein An fang. Ich komme jetzt, um dich zu holen, Amanda. Ich werde dich heimbringen, und du wirst mir dabei helfen. Hast du ge hört? Du musst mir helfen.«
Lisey schloss die Augen, umklammerte Amandas Hände erneut fester, war sich bewusst, dass sie ihrer Schwester ver mutlich wehtat, und scherte sich nicht darum. Amanda konn te sich ja später beschweren, sobald sie ihre Stimme wieder gefunden hatte. Wenn sie je wieder eine Stimme hatte, um sich zu beschweren. Ah, die ganze Welt besteht aus Wenn und Aber, hatte Scott mehr als einmal geklagt.
Sie nahm all ihre Willenskraft und Konzentration zusam men und erzeugte das deutlichste Bild des Pools, zu dem sie imstande war: Sie sah
Weitere Kostenlose Bücher