Love
ihr wirklich erschienen war oder ob sie sich das alles in halb wachem Zustand eingebildet hatte, aber eines wusste sie ganz sicher: Irgendwann in dieser Nacht war Amanda wieder fort gegangen. Diesmal vielleicht für immer.
ZWEITER TEIL: SUWAS
»Sie drehte sich um und sah einen großen weiße n Mond, der sie über den Hügel hinweg ansah . Und ihre Brust öffnete sich ihm, sie wurde durc h sein Licht gespalten wie ein durchsichtige r Edelstein. Von dem Vollmond erfüllt stand sie da , bot sich ihm an. Ihre beiden Brüste öffneten sich , um ihm den Weg freizugeben,ihr Körper öffnet e sich wie eine bebende Anemone, eine sanfte , geweitete Einladung, die der Mond berührte. «
– D.H. Lawrence, Der Regenbogen
V LISEY UND DER LANGE, LANGE DONNERSTAG
(Stationen des Bools)
1 Lisey brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass dies hier weit schlimmer war als Amandas frühere drei Ferien von der Realität – ihre Perioden »passiver Semi-Katatonie«, um den Ausdruck der Psychiaterin zu benutzen. Es war, als hätte ihre meistens nervige und manchmal lästige Schwester sich in eine atmende große Puppe verwandelt. Lisey schaffte es (mit erheb licher Mühe), Amanda in eine sitzende Position hochzuziehen und so zu drehen, dass sie auf der Bettkante saß, aber die Frau in dem weißen Baumwollnachthemd – die unmittelbar vor Tagesanbruch mit der Stimme von Liseys totem Ehemann ge sprochen haben mochte oder auch nicht – reagierte nicht auf ihren Namen, egal, ob er gesprochen, gerufen oder ihr fast ver zweifelt ins Gesicht geschrien wurde. Sie saß nur mit in den Schoß gelegten Händen da und fixierte ihre jüngere Schwester mit starrem Blick. Und als Lisey zur Seite trat, fixierte sie wei ter den Punkt, wo sie gestanden hatte.
Lisey ging ins Bad, um einen Waschlappen mit kaltem Wasser anzufeuchten, und als sie zurückkam, war Amandas Oberkörper wieder nach vorn gesunken, während ihre Füße weiter auf dem Boden standen. Lisey fing an, sie wieder hochzuzie hen, musste dann aber aufhören, weil Amandas Gesäß, das dem Bettrand schon gefährlich nahe war, nach vorn zu rutschen begann. Hätte sie weitergemacht, wäre Amanda auf dem Fußboden gelandet.
»Manda-Bunny!«
Diesmal keine Reaktion auf den Kosenamen aus der Kind heit. Lisey beschloss, alles auf eine Karte zu setzen.
»Big Sissa Manda-Bunny!«
Nichts. Statt es mit der Angst zu kriegen (das würde bald folgen), wurde Lisey von der Art Wut erfasst, zu der Amanda ihre jüngere Schwester kaum je mit Absicht hatte provozieren können.
»Schluss jetzt! Schieb deinen Arsch gefälligst wieder aufs Bett, damit du dich aufsetzen kannst!«
Nichts. Nada . Lisey bückte sich, wischte Amanda das Ge sicht mit dem kalten Waschlappen ab und erhielt auch darauf keine Reaktion. Die Augen blinzelten nicht einmal, als der Waschlappen über sie hinwegfuhr. Jetzt begann Lisey ängst lich zu werden. Sie sah auf den Radiowecker neben dem Bett und stellte fest, dass es erst kurz nach sechs Uhr war. Sie hät te Darla anrufen können, ohne befürchten zu müssen, Matt zu wecken, der oben in Montreal den Schlaf der Gerechten schlief, aber das wollte sie nicht. Noch nicht. Darla anzurufen kam dem Eingeständnis einer Niederlage gleich, zu dem sie noch nicht bereit war.
Sie ging ums Bett herum, packte Amanda unter den Ach seln und zog sie rückwärts. Das war anstrengender, als sie bei Amandas hagerem Körper erwartet hatte.
Weil du ihr volles Gewicht bewältigen musst, Babylove. Das ist der Grund.
»Halt die Klappe«, sagte sie, ohne eine Ahnung zu haben, mit wem sie sprach. »Halt einfach die Klappe.«
Sie kniete sich so aufs Bett, dass sie Amandas Oberschenkel zwischen ihren Knien hatte, während ihre Hände sich auf beiden Seiten von Amandas Hals befanden. In dieser Posi tion des oberen Liebenden konnte sie direkt in das aufbli ckende, starre Gesicht ihrer Schwester sehen. Bei ihren frühe ren Absencen war Manda gefügig gewesen … fast wie eine hypnotisierte Person gefügig ist, hatte Lisey damals gedacht. Das schien diesmal anders zu sein. Sie konnte nur hoffen, dass dieser Eindruck trog, denn es gab gewisse Dinge, die jede Person morgens zu verrichten hatte. Das heißt, wenn diese Person ihr Privatleben in ihrem kleinen Cape-Cod-Haus wei terführen wollte.
»Amanda!«, schrie sie ins Gesicht ihrer Schwester hin ab. Dann gleich hinterher, wobei sie sich nur ein bisschen lächerlich vorkam (schließlich waren sie hier nur zu zweit): »Big … Sissa … Manda-Bunny! Ich will
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