Love
zurückfahren. Wenn er dann abgeliefert war, kam die zweite Rückfahrt in Richtung Castle Rock. Endgültig würde sie gegen halb neun Uhr abends in die eigene Einfahrt abbiegen … und das auch nur, wenn sie das Glück – und den Verkehr – auf ihrer Seite hatte.
»An deiner Stelle würde ich tief Luft holen und mir die Nase zuhalten«, sagte Darla.
»Schlimm?«
Darla zuckte mit den Schultern, dann gähnte sie. »Ich war schon auf schlimmeren.«
Lisey allerdings auch, besonders auf ihren Reisen mit Scott. Sie benutzte das WC mit angespannten Oberschenkelmus keln, um den Klositz nicht mit dem Hintern berühren zu müs sen – die noch vertraute Lesereisen-Hocke –, betätigte die Spülung, wusch sich die Hände, tupfte ihr Gesicht feucht ab, kämmte sich und begutachtete sich dann im Spiegel. »Neue Frau«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »American Beauty.« Sie bleckte eine Menge teurer kieferorthopädischer Arbeit. Ihre Augen über diesem Alligatorgrinsen blickten jedoch zwei felnd.
»Mr. Landon hat gesagt, falls wir uns jemals begegnen, soll ich Sie fragen …«
Kein Wort mehr davon, lass es gut sein.
»Ich soll Sie fragen, wie er die Krankenschwester gefoppt hat …
»Nur hat Scott nie gefoppt gesagt«, erklärte sie ihrem Spie gelbild.
»… wie er damals in Nashville die Krankenschwester ge foppt hat.«
»Scott hat geboolt gesagt, nicht wahr?«
Sie hatte wieder den kupfrigen Geschmack im Mund: den Geschmack von Pennys und Panik. Ja, Scott hatte geboolt gesagt. Klar. Scott hatte gesagt, Dr. Alberness solle Lisey fra gen (falls er sie jemals kennenlernte), wie er damals die Kran kenschwester in Nashville geboolt hatte. Dabei hatte Scott natürlich genau gewusst, dass sie seine Nachricht erhalten würde.
Hatte er ihr Nachrichten geschickt? Hatte er es schon da mals getan?
»Nicht daran rühren«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu und verließ die Toilette. Es wäre schön gewesen, wenn sie diese Stimme dort hätte zurücklassen können, aber neuerdings schien sie allgegenwärtig zu sein. Sie hatte lange geschwiegen, hatte entweder geschlafen oder war mit Lisey darin einig gewesen, dass es manche Dinge gab, von denen man einfach nicht sprach, nicht einmal im Kreis der inneren Stimmen. Zum Beispiel darüber, was die Krankenschwester am Tag nach dem Attentat auf Scott gesagt hatte. Oder
(schweig, um Himmels willen, schweig)
was sich im Winter 1996
(Sei still!)
ereignet hatte.
( HALT JETZT ENDLICH DEN MUND! )
Und – was für ein blauäugiges Wunder! – die Stimme ver stummte tatsächlich … aber trotzdem fühlte sich Lisey weiter beobachtet und belauscht und hatte Angst.
6 Lisey kam eben rechtzeitig aus der Damentoilette, um zu sehen, wie Darla den Hörer des Münztelefons einhängte.
»Ich habe das Motel gegenüber von Greenlawn angerufen«, sagte sie. »Es sah sauber aus, also habe ich mir für heute Nacht ein Zimmer reservieren lassen. Ich habe wirklich keine Lust, noch zum Castle View zurückzufahren, und so kann ich Manda gleich morgen früh besuchen. Ich brauch's nur wie die Hühner zu machen und über die Straße zu laufen.« Sie warf ihrer jüngeren Schwester einen unsicheren Blick zu, den Lisey ziemlich surreal fand, wenn sie daran dachte, wie Darla jahrelang bestimmt hatte, was gemacht wurde – meistens in schneidend scharfem Keine-Widerrede-Ton. »Findest du das albern?«
»Ich finde, das ist eine großartige Idee.« Lisey drückte Darla die Hand, und Darlas erleichtertes Lächeln brach ihr ein wenig das Herz. Sie dachte: Auch das bewirkt Geld. Es macht einen zur Klügeren. Es macht einen zum Boss. »Also komm, Darl – für die Rückfahrt setze ich mich ans Steuer, was hältst du davon?«
»Mir gerade recht«, sagte Darla und folgte ihrer jüngeren Schwester in den Spätnachmittag hinaus.
7 Die Rückfahrt zum Castle View dauerte so lange, wie Lisey befürchtet hatte; sie hatten einen überladenen, schwer fälligen Langholzwagen vor sich, und auf der kurvenreichen hügeligen Strecke gab es nirgends eine Überholmöglichkeit. Das Beste, was Lisey tun konnte, war, reichlich Abstand zu halten, damit sie nicht zu viel vom Dieselqualm des Lasters abbekamen. So hatte sie Zeit, über den hinter ihr liegenden Tag nachzudenken. Das war immerhin etwas.
Mit Dr. Alberness zu sprechen war so gewesen, als würde man zum Ende des vierten Innings in ein Baseballspiel einsteigen, aber das war nichts Neues; Aufholjagden hatten stets zu ihrem Leben mit Scott gehört. Sie erinnerte sich an den
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