Lovesong
bis der Zug langsamer wird und in einen Bahnhof einfährt, wo ich sie aus der Bahn schleife, raus auf den Bahnsteig, die Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend. Ein Teil meines Gehirns warnt mich ganz leise, dass ich zu überstürzt handle, doch dem anderen Teil ist das egal. Als wir oben auf der Straße sind, schleppe ich Mia noch ein paar Blocks weiter, bis ich absolut sicher bin, dass uns niemand verfolgt. Erst dann halte ich an.
»Willst du uns denn beide umbringen?«, schreit sie.
Ich fühle, wie mich das schlechte Gewissen überkommt. Aber sofort drehe ich den Spieß um und brülle zurück.
»Und was ist mit dir? Willst du, dass ich von einem Mob überfallen werde?«
Ich blicke nach unten und bemerke, dass ich immer noch ihre Hand halte. Mia folgt meinem Blick. Ich lasse sie los.
»Welcher Mob denn bitte, Adam?«, fragt sie nun.
Jetzt spricht sie mit mir, als wäre ich geistesgestört. Genau so redet Aldous immer mit mir, wenn ich eine meiner Panikattacken hab. Aber wenigstens würde Aldous mir niemals vorwerfen, mir irgendwelche Fanattacken nur einzubilden. Dazu hat er das schon viel zu oft selbst miterlebt.
»Mich hat da unten jemand erkannt«, murmele ich und entferne mich dabei von ihr.
Mia zögert kurz, dann rennt sie mir hinterher. »Niemand wusste, dass du das bist.«
Dass sie es nicht geschnallt hat – welch ein Luxus, nichts davon mitzukriegen!
»Der ganze Waggon hat mich erkannt.«
»Wovon sprichst du bitte, Adam?«
» Wovon ich da rede? Vor meinem Haus schlagen die Fotografen Zelte auf. Seit zwei Jahren kann ich keinen Plattenladen mehr betreten. Ich kann keinen Spaziergang machen, ohne dass ich mich fühle wie ein Reh am ersten Tag der Jagdsaison. Jedes Mal, wenn ich nur erkältet bin, steht in der Klatschpresse, ich würde Koks nehmen.«
Ich sehe sie an im Schatten der nächtlich verlassenen Stadt. Ihr Haar fällt ihr ins Gesicht, und ich weiß genau, dass sie krampfhaft versucht herauszufinden, ob ich jetzt endgültig durchdrehe. Und ich muss gegen den plötzlichen Drang ankämpfen, sie an den Schultern zu packen und sie gegen ein Gebäude mit geschlossenen Jalousien zu drücken, bis das Beben uns beide erfasst hat. Denn ich würde auf einmal gern ihre Knochen klappern hören. Ich möchte spüren, wie ihr weiches Fleisch nachgibt, will hören, wie sie aufstöhnt, wenn meine Hüftknochen sich in sie rammen. Ich will ihren Kopf zurückreißen, damit ihr Hals bloßliegt. Will sie an den Haaren reißen, bis ihr Atem in Stößen kommt. Ich will sie zum Weinen bringen und dann ihre Tränen auflecken. Und dann will ich meinen Mund auf ihren pressen, will ihr all die Dinge übermitteln, die sie nicht versteht.
»Das ist doch alles Schwachsinn! Wo zum Teufel willst du überhaupt mit mir hin?« Das Adrenalin, das in meinen Adern pulsiert, verwandelt meine Stimme in ein Fauchen.
Mia sieht verstört aus. »Ich hab’s dir doch gesagt. Ich will dir all meine geheimen New Yorker Lieblingsplätze zeigen.«
»Klar, logo. Ich hab, ehrlich gesagt, genug von Geheimnissen. Also würdest du mir bitte verraten, wohin wir gehen? Ist das denn zu viel verlangt?«
»Himmel, Adam, seit wann bist du denn ein solcher …«
Egoist? Arsch? Narzisst? Mir würden Millionen von Wörtern einfallen, mit denen sich die Leerstelle füllen ließe. Ich habe sie alle schon zu hören bekommen.
»… Typ?«, vervollständigt Mia ihren Satz.
Fast hätte ich losgelacht. Typ? Etwas Besseres ist ihr nicht eingefallen? Erinnert mich irgendwie an diese Geschichte, die meine Eltern über mich erzählen, dass ich als kleines Kind, wenn ich sauer wurde, mich immer fürchterlich aufregte und sie dann beschimpfte mit den Worten »Ihr, ihr, ihr … Nasen !«, als wäre dies das schlimmste Schimpfwort der Welt.
Aber ich erinnere mich auch noch an etwas anderes, an ein Gespräch, das ich einmal spät in der Nacht mit Mia führte. Sie und Kim teilten immer alles in gegensätzliche Kategorien ein, und Mia erfand immer wieder neue. Eines Tages meinte sie, sie hätte beschlossen, dass mein Geschlecht sich in zwei gleiche Teile spalte – Männer und Typen. Im Grunde waren demnach alle Heiligen dieser Welt Männer. Und die Wichser, die Aufreißer, die Kerle, die auf Wet-T-Shirt-Contests standen? Sie waren die Typen. Damals zählte ich noch zur Kategorie Männer.
Und jetzt bin ich also plötzlich ein Typ? Ein Typ! Ich lass mir doch tatsächlich kurz anmerken, dass ich verletzt bin. Mia sieht mich verwirrt an, doch sie scheint
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