Luc - Fesseln der Vergangenheit
Kopf geht es wesentlich besser. Ich sehe leider keine Möglichkeit auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren, sondern ich weiß genau, was ich tue.« Ehe sie seine Absicht durchschaute, beugte er sich wieder vor und umfasste sie locker mit den Armen. Federleicht strichen seine Lippen über ihren Mund und zogen eine Linie bis zu ihrem Ohr. »Da Alima den Nachtisch vergessen hat, besorge ich mir einen Ersatz.«
Sein Atem an ihrem Ohr jagte Schauer über Jasmins Rücken und dennoch erwiderte sie die Umarmung. Endlich schlossen sich seine Arme enger um sie und zogen sie dicht an seine Brust. Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und murmelte etwas, das sie nicht verstand. Mit einer geschickten Bewegung und als ob sie nichts wiegen würde, drehte er sie so herum, dass sie auf seinem Schoß landete. Ihr Kopf ruhte weiter an seiner Brust, gleichzeitig streichelte er ihr sanft über den Rücken.
Sie hatte Mütter gesehen, die ihre Kinder so hielten, und fühlte sich ähnlich beschützt und gehalten. Bisher hatte sie sich körperlich von ihm angezogen gefühlt, jetzt kam etwas hinzu, über das sie lieber nicht nachdachte. Ebenso erfolgreich verdrängte sie die Frage, ob sie ihm wirklich widerstanden hätte, wenn sein Mund den Eroberungsfeldzug fortgesetzt hätte.
Seine Hand lag jetzt ruhig auf ihrem Oberschenkel und sandte von dort aus Hitzewellen durch ihren Körper. »Lass uns einen Deal machen. Ich erzähle dir, wieso ich Paschtu spreche und die afghanischen Gebräuche kenne, und du erklärst mir, in welcher Beziehung du zu Hamid und seiner Familie stehst. Keine Hintergedanken, keine Fragen, die der andere nicht beantworten will.«
»Das klingt fair, aber du fängst an.«
Unter ihrer Wange bebte seine Brust. »Wieso eigentlich? Aber gut. Meine Mutter hatte mit insgesamt fünf Söhnen, einem großen Haus und ihrem Job reichlich um die Ohren. Als ich zwei Jahre alt war, hat mein Vater darauf bestanden, dass sie sich Hilfe besorgt. Ich kenne die Geschichte nur vom Erzählen, aber ich kann mir gut vorstellen, wie es gewesen ist: Etliche Frauen haben sich als Kindermädchen und Haushälterin beworben, aber eine Frau kam mit dem ganzen Stolz ihres Volkes hereinspaziert und sah sich in aller Ruhe um. Als meine Mutter fragte, ob sie nicht über ihre Qualifikationen reden wollte, erwiderte sie, dass sie lieber die Kinder sehen würde. Dann machte sie meiner Mutter klar, dass unsere Familie sich quasi bei ihr zu bewerben habe. Statt sie rauszuschmeißen, erfüllte meine Mutter ihr den Wunsch und einen Tag später begann Ana bei uns ihren Job. Ana war Paschtunin und mit ihr wehte ein völlig neuer Wind durchs Haus. Es dauerte nicht lange und Ana und meine Mutter waren beste Freundinnen. Ana hätte gerne einen ganzen Haufen Kinder gehabt, aber es blieb bei einer Tochter, also adoptierte sie einfach mich und meine Brüder. Wir waren abwechselnd in ihrem Haus und bei uns. Da sie wollte, dass ihre Tochter beide Kulturen kennenlernt, wurde bei ihnen Paschtu gesprochen und auf traditionelle Art und Weise gekocht und gegessen. Meine Ziehschwester musste niemals ein Kopftuch tragen, aber es war dort undenkbar, dass mit Messer und Gabel gegessen wurde. Als Kinder haben wir die bunten Teppiche und die exotischen Gerüche in Anas Haus geliebt, und wir hatten das große Glück, praktisch in zwei Familien aufzuwachsen.«
»Und wieso sprichst du auch Arabisch?«
»Ana und ihre Familie müssen mich ziemlich geprägt haben, ich habe Orientalistik studiert, da war das Pflicht.«
»Was war mit Anas Mann?«
Luc zögerte lange, ehe er weitersprach. »Als ich sehr klein war, war er für mich eine dunkle, angsteinflößende Gestalt. Später habe ich gelernt, ihn zu respektieren. Belassen wir es dabei.«
Gerade, wo es interessant wurde. Dass eine Paschtunin statt des Ehemannes ihre Familie ernährte, war selbst heute noch extrem ungewöhnlich. Vielleicht konnte sie Luc zum Weiterreden bringen. »Hast du Angst, dass ich im Internet auf deine Familie stoße, wenn du mir zu viel verrätst?«
Statt ihren nicht ernst gemeinten Einwand lässig abzutun, blieb Luc ernst. »Genau das ist der Punkt. Es wäre ein Alptraum, wenn meine Familie in diesen Konflikt hineingezogen würde.«
Wenn die Gefahr bestand, dass sie mit den wenigen Informationen auf seinen wahren Namen stieß, musste seine Familie einen gewissen Bekanntheitsgrad besitzen. Vielleicht konnte Kalil ihr helfen, in den Suchmaschinen zu stöbern. Auf der anderen Seite war das
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