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Lucas

Lucas

Titel: Lucas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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saß auf meinem Hocker und hielt den Kopf gesenkt. Ich wollte nichts wissen. Aber als das Rufen deutlicher wurde, merkte ich plötzlich, dass es etwas anderes war als gute Laune. Es war eine einsame Stimme, laut, aber klar, und auch wenn sie wie außer Kontrolle klang, wusste ich doch genau, der da rief, war nüchtern. Nüchtern, aber verzweifelt.
    »Hey . . . hey . . . helft mir . . . ich brauch Hilfe
. . .
da liegt ein Mädchen . . .«
    Ich hob den Kopf und schaute die Straße hinunter. Ein dürrer alter Mann mit einem langsam gelblich werdenden Bart kam aus Richtung des Strands gehetzt. Er war ungefähr sechzig oder fünfundsechzig, trug eine ausgebeulte Hose mit hochgekrempelten Beinen, Sandalen und kein Hemd. Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich noch ziemlich genau an ihn – ich sehe seine halb verhungert wirkende knochige Brust, seinen eingefallenen weißen Bauch und die verknöcherten Arme, wie sie durch die Luft schwenkten, während er rannte und rief.
    »Hilfe . . . bitte . . . Hilfe . . .«
    Ich stand auf, mein Herz kam auf Touren. Ich sah die Augen des alten Mannes, weit aufgerissen und voller Angst, und hörte die Atemlosigkeit seiner Stimme.
    »Um Himmels willen . . . bitte . . .«
    Leute gingen jetzt auf ihn zu, das Geräusch der Schritte und der verdutzten Stimmen wurde lauter, als alle merkten, dass irgendwas ernsthaft nicht in Ordnung war.
    »Was ist los?«, sagte Simon. »Was ruft er?«
    »Bleib hier«, sagte Mrs Reed. »Ich geh und schau nach, was passiert ist.«
    Als sie loslief, folgte ich ihr.
    »Du auch, Cait«, sagte sie. »Bleib hier.«
    Ich überhörte sie und fing an zu rennen.
    »Cait!«
    Ein Stück weiter oben stand jetzt der Mann nach vorn gebeugt mitten auf der Straße, die Hände auf den Knien, undschnappte nach Luft. Er wurde von einem wachsenden Kreis an Gesichtern umlagert und jedes Gesicht bombardierte ihn mit Fragen:
Was ist los? Bist du in Ordnung? Was ist passiert?
Jemand verschaffte ihm einen Stuhl und setzte ihn drauf, ein anderer holte ihm ein Glas Wasser. Als ich die Menge erreichte, leerte er gerade durstig das Glas und wischte sich die Tropfen vom Kinn. Ich bahnte mir einen Weg hindurch bis in die vorderste Reihe des Kreises.
    »Da ist ein Mädchen«, sagte er. »Da ist ein Mädchen . . .«
    »Ganz ruhig«, sagte jemand. »Komm erst mal wieder zu Atem.«
    Er schüttelte den Kopf. »Da ist ein Mädchen . . . am Strand. Ein junges Mädchen. Ich hab sie gesehen. Es war schrecklich.«
    Ein Mann mit einer weißen Kappe kauerte sich vor ihm hin und sprach ruhig. »Lass dir Zeit«, sagte er. »Was hast du gesehen?« Ich erkannte die Stimme. Es war Shev Patel aus dem Dorfladen. Er legte seine Hand behutsam auf das Knie des Mannes und schaute ihm in die Augen. »Erzähl mir, was du gesehen hast«, wiederholte er.
    Der alte Mann sah ihn an und schauderte. »Ein Mädchen . . . ganz zerschnitten . . . ich glaube, sie ist tot.«

Siebzehn
    E inen Augenblick sagte niemand etwas. Alle standen nur da und schauten auf den alten Mann, unschlüssig, ob er die Wahrheit sagte oder nicht. Ich sah die Zweifel in ihren Gesichtern – er ist alt, er war zu lange in der Sonne, er hat wahrscheinlich Gespenster gesehen. Der alte Mann schaute zurück, und als er ihren Zynismus bemerkte, hob er die Hände und zeigte ihnen das getrocknete Blut an seinen Handflächen.
    »Sie liegt im Bunker«, sagte er.
    Jemand sagte: »Oh, mein Gott!« Plötzlich wurden alle andern ganz unruhig und die Luft war von einem Lärm drängelnder Schritte und erregter Stimmen erfüllt –
Was hat er gesagt? Was ist passiert? Ein Mädchen? Wer denn? Wo liegt sie? Ist sie tot?
Unter dem ganzen Gebrabbel und Kopfschütteln schnappte ich ein paarmal das Wort »Zigeuner« auf und glaubte auch zu hören, wie jemand »Lucas« sagte, aber sicher war ich mir nicht. Ein merkwürdiges Gefühl von Distanz hatte mich erfasst. Ich fühlte mich losgelöst von allem, sogar von mir selbst. Ich spürte nichts. Ich war nicht schockiert. Ich hatte keine Angst. Ich hatte überhaupt keine Gefühle. Ichstand da, aber ich war nicht
anwesend
. Als sich die erste Panik legte und jeder anfing etwas zu
tun
, konnte ich nicht anders als regungslos auf der Straße stehen zu bleiben und ihnen zuzusehen.
    Shev Patel übernahm die Initiative. Als Erstes zog er sein Handy heraus und wählte den Notruf. Während er wartete, dass jemand abhob, brüllte er lauter Anweisungen. »Bleibt ruhig. Seid leise – tretet ein bisschen zurück und erdrückt den Mann

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