Lucas
Juwelen mit einem eingebrannten schwarzen Kern. Dem Herzstück, das bis ans Ende der Erde sieht. Ich kann auch sein Haar riechen. Es riecht nach Erde, wie das Fell eines wilden Tiers. Feucht, aber darunter trocken. Trocken, dick und warm. Sein Mund . . . eine Mondsichel. Seine Lippen bewegen sich, sie formen die Konturen seines Gesichts und er spricht mit der Stille der Nacht.
Caity . . .
Ich spüre seine Hand auf meinem Mund.
Cait . . . ich bin’s . . .
Ich schmecke den frischen Regen auf seiner Haut.
Cait . . . wach auf . . .
Ich öffne die Augen . . . öffne mich . . .
»Cait?«
»Lucas?«
»Schh . . .«
Die Stimme war echt. Die Fingerspitzen, die leicht auf meinenLippen ruhten, waren echt. Das Gesicht über mir war echt. Es war kein Traum. Lucas stand an meinem Bett und beugte sich über mich, seine Gestalt umgeben von schwachem Licht. Ich spürte, wie sein Atem meine Haut berührte.
»Wa–«, sagte ich.
»Schh . . .«, flüsterte er und warf einen Blick über die Schulter. »Ich will niemanden aufwecken.« Langsam löste er seine Finger von meinen Lippen.
»Was machst du hier?«, fragte ich. »Geht es dir gut? Wie bist du reingekommen?«
Er lächelte mich an. »Das sind viele Fragen auf einmal.«
Ich setzte mich auf, hüllte mich in meine Bettdecke und sah auf die Uhr. Es war Viertel nach drei. Der Regen pladderte beständig gegen die Fensterscheibe und im Zimmer war es kalt. Die Stille der Zeit vor der Dämmerung beruhigte die Luft. Lucas trat vom Bett zurück und wischte sich Regen aus dem Gesicht. Nasse Kleidung klebte an seiner Haut und seine Hände wie auch das Gesicht waren mit Schlamm verschmiert. Er hatte seine Leinentasche dabei, sie hing ihm über die Schulter. Er sah erschöpft aus.
»Ich dachte, du wärst fort«, sagte ich. »Ich dachte, du hättest die Insel verlassen.«
»Glaubst du, ich würde gehen ohne mich zu verabschieden?«
»Das brauchtest du nicht.«
»Ich weiß.« Er reckte den Hals und horchte auf etwas, dann redete er weiter. »Ich wollte aufs Fest kommen, aber die Lage wurde ein bisschen unangenehm.«
»Du weißt das mit Angel?«
Er nickte.
»Sie sind hinter dir her, Lucas. Sie glauben, du warst es.«
»Ich weiß. Den größten Teil der Nacht habe ich damit zugebracht, ihnen aus dem Weg zu gehen. Ich dachte, im Wald auf der kleinen Insel wäre ich sicher, aber ein alter Mann führte sie durchs Watt. Sie haben meinen Platz gefunden und ihn zerstört. Sie sind überall, Cait. Es gibt keine Möglichkeit, von der Insel zu kommen.«
»Du kannst hier bleiben«, sagte ich.
Er scharrte verlegen mit den Füßen. »Ich brauch nur was, wo ich mich verstecken kann, bis die Ebbe einsetzt. Sobald das Wasser zurückgeht, kann ich durchs Schilf waten und an der Horde vorbei auf die Brücke gelangen . . .« Er sah mich an. »Ich möchte keine Probleme verursachen.«
»Es ist kein Prob–«
Plötzlich schwang die Tür auf und eine Gestalt im Morgenrock trat ins Zimmer. Lucas reagierte sofort. Ich sah eine wirbelnde Bewegung, ein mattes Blitzen von Metall und im nächsten Moment stand die Gestalt im Morgenrock gegen die Wand gedrückt da, mit einem Messer am Hals.
»Nein!«, schrie ich Lucas zu. »Das ist mein Vater!«
Ohne das Messer zu senken warf Lucas mir einen Blick zu, dann schoss sein Blick zur Seite, als Dominic in der Tür erschien und das Licht anschaltete. Der Augenblick erstarrte in der plötzlich blendenden Helligkeit: Lucas, der, die Spitze des Messers an die Kehle gedrückt, Dad vor der Wand festhielt, Dad, der mit weit aufgerissenen Augen die Klinge anstarrte, und Dominic, der mit der Hand noch auf dem Lichtschalter und mit offenem Mund im Eingang stand.
»Dad?«, sagte er. »Verdamm–«
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Es ist Lucas.«
»Jesses – was tut er?«
»Lucas«, sagte ich. »Lucas, hör mir zu . . . es ist alles in Ordnung. Es ist mein Dad. Nimm das Messer runter.«
Lucas sah Dad an.
Dad leckte sich über die Lippen und begegnete seinem Blick. »Du bist also Lucas?«, krächzte er und warf einen Blick auf das Messer. »Freut mich, dich kennen zu lernen.«
Lucas rührte sich einen Moment nicht. Seine Augen bohrten sich in Dad – kalt kalkulierend, die Situation genau abwägend. Erst dann senkte er das Messer und trat zurück. Dad atmete aus, hielt sich die Hand an die Kehle und wischte über ein winziges Tröpfchen Blut. Er sah auf seine Hand, dann schaute er zu Lucas auf.
»Begrüßt du alle Leute so?«
»Tut mir Leid«, sagte Lucas.
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