Lucas
Simon Reed . . . Weedy Reedy wurde er meistens genannt, was so viel heißt wie schlapper Reethalm. Oft wurde er auch bloß Simple Simon gerufen. Oder ganz einfach Kauz. Er war schon immer ein Junge gewesen, der nicht recht dazugehörte. Sogar in der Grundschule hatte er sich mit den andern nie vertragen. Die einzige Person, mit der er je glücklich gewesenzu sein schien, war sein älterer Bruder Harry, ein großer begriffsstutziger Junge mit rotem Gesicht und ständig strahlendem Lächeln. Simon war zehn gewesen, als Harry bei einem Unfall zu Hause auf der Farm ums Leben kam. Seither war er noch unnahbarer geworden und verbrachte die meiste Zeit damit, ziellos allein über die Insel zu streifen, Pflanzen zu studieren, Vögel zu beobachten, ansonsten wechselte er mit kaum jemandem ein Wort. Ich hatte ihn ganz gut kennen gelernt, weil ich manchmal bei der Ortsgruppe des englischen Tierschutzbundes mithalf, die seine Mutter leitete. Normalerweise bin ich nicht scharf drauf, irgendwas mit Gruppen zu tun zu haben. An die Tierschützer war ich auch bloß aus Versehen geraten. Im Jahr zuvor hatte Bill eine kurze Phase als Umweltkriegerin durchgemacht. Sie durchlebt solche Phasen in vierzehntägigem Wechsel – Grunge-Girl, Hippie-Mädchen, Naturkind, harter Kerl . . . keine davon hat je angehalten. Wie auch immer, während ihrer Öko-Phase schwärmte sie plötzlich für Simon und überredete mich mit ihr zusammen dem Tierschutzbund unsere freiwillige Mitarbeit anzubieten, um so bei Simon Pluspunkte zu sammeln. Die Schwärmerei hielt natürlich nur eine Woche, und als es dann wirklich drum ging, eine freiwillige Aufgabe zu
übernehmen
, wollte Bill nichts mehr davon wissen. »Bloß schnell raus da«, lauteten exakt ihre Worte. »Ich tanz doch nicht das ganze Wochenende irgendwo rum und verkauf Plakate von toten Walen.« Ich aber war zu feige gewesen auszusteigen, also blieb ich hängen und nach einer Weile fing die Arbeit sogar an Spaß zu machen. Also machte ich weiter. Simon und ich trafen uns ab und zu, um Dinge für denStand des Tierschutzbundes auf irgendwelchen Straßenfesten und sonstigen Veranstaltungen vorzubereiten: Poster entwerfen, Buttons, Vor-Ort-Informationen, solche Sachen. Genau das hatte er auch in Bezug auf das Sommerfest gemeint. Wir hatten schon ein paar Ideen für den Stand auf dem Straßenfest – anders gesagt, er würde am Freitag zu mir kommen, um mir Plakate zu zeigen, die er entworfen hatte. In der Regel trafen wir uns bei mir. Manchmal holte mich auch seine Mutter mit dem Auto ab und fuhr mich zu der kleinen Farm in der Mitte der Insel, wo sie lebten, doch wesentlich öfter ging Simon den Weg zu mir zu Fuß. Das war der Grund, warum Dominic immer so tat, als hätte ich was mit ihm. Und deshalb . . . egal, jedenfalls hatte ich nichts mit Simon. Er war einfach ein netter, stiller, ein bisschen merkwürdig aussehender Junge, mit dem ich zufällig befreundet war.
Jetzt sah ich ihn an. Ziemlich klein, ein bisschen mager, mit lang geschnittenem Gesicht, dunklen Augen und pechschwarzem Haar. Es fiel ihm immer über die Augen, was dazu führte, dass er es pausenlos mit der Hand zurückkämmte. Obwohl er auf einer Farm lebte, hatte er eine Gesichtsfarbe wie jemand, der nie in die Sonne geht. Ein bleiches, fast ungesundes Aussehen. Das wurde nicht gerade besser durch die Tatsache, dass er, egal bei welchem Wetter, immer einen langen schwarzen Mantel trug, darunter ein langärmeliges Baumwollhemd und eine verstaubte alte Cordsamthose – nie Shorts. Doch davon abgesehen – oder vielleicht gerade
deshalb
– hatte er etwas Fesselndes an sich . . . eine gewisse Schönheit, glaube ich. Aber eben eine ganz bestimmte Schönheit. Eine, die die meisten Mädchenablehnen und andere Jungs eher fürchten. Und was sie fürchten – oder nicht begreifen –, hassen sie natürlich. Darum war Simon, alles in allem, nicht gerade der Populärste unter den Jungs.
Ich ging auf ihn zu und stellte mich neben ihn. Er lächelte nervös und begann mit der Rolle Papier leicht gegen seine Beine zu schlagen.
»Ist das für die Poster?«, fragte ich.
»Ja. Aber nur grobe Skizzen, so gut es eben ging. Ich will gerade in die Stadt, um noch passendes –«
»Da will ich auch hin. Ich könnte was mitbringen. Es gibt doch den Kunstladen unten neben der Bücherei – wonach soll ich denn fragen?«
»DIN-A 1-Zeichenpapier , ist aber ziemlich teuer.« Er fing an in seinen Taschen nach Geld zu suchen.
»Lass mal«, sagte ich.
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