Lucas
musste reichen. Ich überdachte die Situation. Entweder er kletterte zuerst, in diesem Fall würde ich den Weg hinunterlaufen zum Strand, oder aber er ließ mich zuerst drübersteigen . . .was für mich hieß, ich würde in den Wald rennen. Letzteres erfüllte mich nicht gerade mit großem Vertrauen – aber es war immer noch hundertmal besser als nichts.
»Fertich?«, nuschelte Jamie. Ich sah ihn an. Die Flasche in seiner Hand war fast leer. Er konnte kaum noch gerade stehen. Er ließ den Kopf kreisen und blickte auf das Tor, schlingerte zur Seite und sah mich dann wieder an. »Ich weiß, was du denkst«, sagte er. Danach wirbelte er mit einem dämlichen Grinsen herum und trat gezielt gegen das Tor. Die Scharniere barsten, der Pfosten splitterte und das ganze Tor stürzte zu Boden.
Jamie drehte sich nach mir um und blinzelte und ich, die ich jeden Mut verloren hatte, senkte den Kopf und verabschiedete mich von meiner geistigen Gesundheit.
Ich spürte, wie seine Hand meinen Arm fest umschlang, und beugte den Ellenbogen, um den Schock eines weiteren scharfen Rucks zu verringern – doch er kam nicht. Ich wartete ein paar Sekunden, dann schaute ich auf, in der Erwartung, Jamie Tait entweder trinken oder mich gierig anstieren zu sehen, aber er tat keins von beiden, sondern schaute zurück, den Weg hoch. Plötzlich war sein Blick wieder scharf.
Die nächsten Minuten vergingen in völliger Verschwommenheit. Damals passierte alles so schnell, dass ich es gar nicht aufnehmen konnte, aber wann immer ich heute drüber nachdenke – und ich denke oft drüber nach –, erinnere ich jedes Detail. Ich erinnere mich an das Aufblitzen des blassblauen Himmels gegen das Grün der Hecken, als ich mich umdrehte und den Weg hinaufblickte, ich erinnere mich an die Flut von Gefühlen, die durch meinen Körper schoss, alsich Lucas den Weg herunterkommen sah. Ich spüre sie noch immer, eine berauschende Mischung aus Ekstase, Angst, Erleichterung, Hoffnung, Liebe – und Hass. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir, jemanden leiden zu sehen.
Brendell baute sich mitten auf dem Weg auf, um Lucas den Durchgang zu blockieren. So aufrecht stehend, die Beine leicht gespreizt und die Hände seitlich herabhängend, wirkte er gewaltig. Im Vergleich dazu sah Lucas fast zerbrechlich aus. Aber das schien ihn nicht zu stören. Er lief direkt auf Brendell zu, ohne das geringste Zögern und nicht einen einzigen Moment den Blick von ihm wendend. Je näher er kam, desto weniger selbstsicher wirkte Brendell. Seine Füße fuhren nervös hin und her. Er kratzte sich den Kopf. Seine Schultern wölbten sich vor. Ich hörte ihn etwas sagen, doch Lucas antwortete nicht. Er ging einfach weiter.
Es war, als ob Brendell nicht existierte.
Lucas kam rasch näher, er lief wie ein Besessener. Brendell wartete, bis Lucas höchstens noch einen Meter entfernt war, dann bewegte er sich. Für einen so großen, schweren Menschen war er überraschend schnell, und als er seine Füße in Stellung brachte und sich dann plötzlich nach vorn warf, hielt ich den Atem an und fürchtete das Schlimmste. Doch Lucas war schneller. Im selben Moment, als sich Brendell bewegte, duckte er seinen Körper nach links, im nächsten Moment sauste er blitzschnell nach rechts und schnappte sich aus der Hecke ein etwa sechzig Zentimeter langes Stück Holz. Es ging so schnell, dass Brendell noch ins Leere stolperte, als Lucas bereits herumfuhr und ihm das Holz voll auf den Hinterkopf schlug. Ein markerschütterndes Wumm ertönte undBrendell sackte mit seinem ganzen Gewicht in sich zusammen. Als er so dalag und sein eines Bein noch im Dreck zuckte, trat Lucas wieder heran, hob das Holz mit beiden Händen hoch und ließ es ein zweites Mal gegen Brendells Kopf krachen.
»
Jesses «
, flüsterte Jamie.
Ich hatte völlig vergessen, dass er noch da war.
Lucas ließ das Holz fallen und drehte sich zu uns um. Er war ein ganzes Stück entfernt, aber ich konnte den Ausdruck in seinen Augen sehen. Die Wildheit darin war erschreckend. Als er auf uns zukam, schwang mich Jamie herum, packte mich im Nacken und hielt mich als lebenden Schutzschild vor sich hin. Ich spürte die Anspannung in seinem Körper. Ich hörte sein entsetztes Atmen in meinem Ohr. Ich roch die Panik in seinem Schweiß. Er zog mich zu dem geborstenen Tor und ich dachte, er würde die Flucht ergreifen, aber am Tor blieb er stehen. Ich spürte, wie er sich umsah, und ich fragte mich, wonach er schaute. Sein Arm lag so dicht
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