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Lucas

Lucas

Titel: Lucas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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gestellt hatte, seit ich alt genug war zum Denken, und ich hätte sie nicht beantworten können, selbst wenn ich wollte. Also tat ich, was man in solch einer Situation von einer Tochter im Teenageralter erwartet – ich starrte schweigend die Wand an, weit weg in Gedanken und nicht in der Lage zu reden. Und ich wünschte mir, alles wäre anders.
    Ich weiß, ich hätte
irgendwas
sagen sollen, und wenn nur, um Dad zu beruhigen, aber ich fand nichts in mir. Ich fand nicht die Worte. Meine Gedanken trieben immer wieder fort. Ich weiß nicht, wohin. Ich weiß nicht mal, worüber ich nachdachte. Ich war zu müde. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Meine Gedanken waren nebulös und verschwommen.
    Es muss gegen Mitternacht gewesen sein, als ich merkte,dass Dad aufgehört hatte zu reden. Er saß einfach nur da, den Arm um mich gelegt, und starrte aus dem Fenster. Der Mond war weitergewandert und das Zimmer dunkel und still. Ich lehnte mich an ihn und sah ihm in die Augen.
    »Es tut mir Leid«, sagte ich.
    Er lächelte. »Das weiß ich. Wir reden morgen drüber. Jetzt, denke ich, schläfst du besser erst mal.«
    Ich gab ihm einen Gutenachtkuss und ließ ihn allein im Dunkeln zurück.

Fünfzehn
    A m nächsten Tag stand ich früh auf, duschte und machte mich fertig fürs Fest. Es war gerade erst sieben, doch die Sonne strahlte bereits mit voller Kraft und man hatte das Gefühl, es würde den ganzen Tag so bleiben. Der Himmel war blau und es ging fast kein Lüftchen. Es war ein Tag für Shorts und T-Shirt , aber wegen der Schnittwunde am Knie und dem Bluterguss am Arm zog ich eine dreiviertellange Hose und ein langärmeliges Top an. Ich fummelte eine Weile an meinen Haaren herum, um irgendwas Außergewöhnliches mit ihnen zu machen, aber schließlich hatte ich keine Lust mehr, mich im Spiegel anzugucken, und gab auf. Ich war sowieso nicht in Stimmung, nett auszusehen. Wozu denn? Was immer ich anhatte und egal, was ich mit meinen Haaren machte, am Abend würde ich trotzdem nur fürchterlich verschwitzt sein. Außerdem war es ja bloß ein albernes kleines Dorffest. Kein Grund, aufgeregt zu sein. Kein Fest, auf dem sich wirklich etwas ereignete.
    Lucas würde jedenfalls nicht kommen.
    Er war doch nicht blöde. Bestimmt wusste er längst, dass die Polizei ihn suchte, und auch, dass das noch seine geringsteSorge war. Angels Geschichte hatte sich inzwischen garantiert überall rumgesprochen und Jamie hatte mit Sicherheit dafür gesorgt, dass sie von einem unbestätigten Gerücht zu einem felsenfesten Faktum mutierte: Lucas war ein Perverser, ein Kinderschänder, ein Vergewaltiger und außerdem ein dreckiger diebischer Zigeuner. Wenn er irgendwo in der Nähe des Fests aufkreuzen würde, gäbe es einen Aufruhr.
    Nein, Lucas würde nicht kommen. Wenn er einen Funken Verstand hatte, war er schon längst weit weg, unterwegs zur Südküste . . .
Es gibt ein paar ganz schöne Orte in Dorset und Devon . . . Die Moore dort wollte ich mir schon immer mal ansehen . . . Ich schick dir eine Postkarte
. . .
    Großartig, dachte ich. Eine Postkarte . . .
    Ich wünschte mir, du könntest hier sein . . .
    Ich kämmte mich, drückte mir einen Sonnenhut auf den Kopf und dachte: Vergiss es. Er ist weg. Vergiss es. Es war schön, solange es ging – was immer
es
war. Aber jetzt ist es vorbei. Erledigt. Zu Ende. Die Zeit ist reif, nach vorn zu schauen . . .
    Mist, Mist, alles großer Scheißmist.
    Es
war
schön, verdammt, ja. Es war lustig. Es war aufregend. Es war trostlos. Es war hart. Es war erschreckend. Es war herzzerreißend. Es war lebendig. Es war wahr. Es war alles, was es gab.
    Und jetzt? Jetzt war das Einzige, worauf ich mich freuen konnte, ein langer, heißer Tag mit Simon und seiner Mutter, an dem wir
Rettet den
Strand
-Aufkleber verkauften und warme Cola aus Dosen tranken.
    Will ich das wirklich?, fragte ich mich. Will ich das?
    Ich starrte in den Spiegel.
    Macht es irgendeinen Unterschied, was du willst?
    Bewirkt es irgendwas?
    Das Mädchen im Spiegel schaute mit ausdruckslosem Gesicht und leerem Blick zurück – es war überhaupt keine Hilfe.
    Ich saß ein paar Minuten da und bemitleidete mich, dann ging ich ins Badezimmer, sprach leise mit dem Elch, stopfte meinen ganzen Tierschutzbund-Krempel in eine Tragetüte und machte mich auf ins Dorf.
     
    Das Sommerfest in Hale findet jedes Jahr am zweiten Samstag im August statt. Es ist nicht gerade das tollste Ereignis, das man sich vorstellen kann, aber eigentlich war es immer ein ganz

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