Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)
Riemchensandaletten. Ihre langen roten Haare waren zum Teil zu Rastazöpfen geflochten, und sie hatte eine Art Stirnband aus vielfarbigen Lederbändchen um ihren Kopf gewickelt. Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber meine Mutter kam weder von einem Kostümball, noch durchlebte sie gerade eine Extremphase der Midlife-Crisis. Sie lief schon seit den Siebzigern so herum, nur das Bauchnabelpiercing war erst in den Neunzigern dazu gekommen.
Mein Stiefvater – in Kordhosen, Wanderschuhen, Anorak und Mütze – war auf der anderen Seite ausgestiegen. »Hanna hat Recht. Du erkältest dich noch, Keilash«, sagte er und versuchte Mama einen Pullover um die Schultern zu legen. Keilash war der spirituelle Name, der meine Mutter einst in einem Ashram verliehen worden war. Mein Stiefvater war allerdings der Einzige, der ihn benutzte. Für alle anderen war sie Irmgard Rübenstrunck, die Frau mit den komischen Klamotten und den vielen rothaarigen Kindern, geblieben. Wir vielen rothaarigen Kinder nannten sie Mama, nur Philipp sagte manchmal »Keil-Arsch« zu ihr, um sie zu ärgern.
»Sei nicht immer so fürsorglich, Jost«, schimpfte meine Mutter, ließ sich aber den Pullover um ihre nackten Schultern hängen.
»Wo kommst du denn schon so früh her, Hanna?«
»So früh ist es doch gar nicht mehr«, sagte Jost. »Bald Mitternacht. Du vergisst, dass Hanna heute den ganzen Tag gearbeitet hat, Keilash.«
»Wo warst du denn, Schätzchen?«, erkundigte sich meine Mutter ohne wirkliches Interesse. Sie fand meine Freizeitbeschäftigungen in der Regel so langweilig wie meine Arbeit. »Im Kino?«
»Nein, Sushi essen mit ein paar Freundinnen. Und anschließend waren wir noch was trinken«, sagte ich.
»Klingt schön«, sagte mein Stiefvater, und es klang ein wenig neidisch. »Deine Mutter und ich waren im Stadtpark spazieren. Weil Vollmond ist.«
»Es war wunderbar«, schwärmte Mama. »Kein Mensch da. Die Mondin spiegelte sich im Weiher, und ich bin barfuß über die Wiese getanzt. Ich wäre auch nackt schwimmen gegangen, aber ein gewisser Spießer in meiner Begleitung wollte das ja nicht.«
»Vor ein paar Tagen konnte man da noch Schlittschuh laufen«, sagte Jost.
»Spaßverderber«, sagte Mama. »In Finnland baden sie auch in Eislöchern. Hast du Philipps neue Freundin schon kennen gelernt, Hanna? Er hat sie heute zum Mittagessen mitgebracht. Stell dir mal vor, ich kannte sie bereits. Sie arbeitet in dem Esoterikbuchladen in der Handkestraße.«
»Fragt sich nur, wann«, sagte ich.
»Sie hat Ärger mit ihren Eltern, das arme Ding. Das müssen schreckliche Spießer sein. Jedenfalls habe ich ihr angeboten, so lange bei Philipp und dir unterzukriechen, bis sich das wieder eingerenkt hat.«
Wie bitte?
»Kommt gar nicht in Frage«, sagte ich aufgebracht.
»Ich halte das auch nicht für eine so gute Idee«, sagte Jost.
»Dich fragt ja hier auch niemand«, sagte meine Mutter. »Hanna, das verstehe ich nicht! Ihr habt doch wahrhaftig Platz genug im Anbau. Was ist das für eine Welt geworden, in der nicht mal mehr die jungen Leute zusammenhalten. So asozial habe ich euch nicht erzogen!«
»Mama, Philipp schreibt in vier Wochen seine erste Abiturklausur. Wir alle wissen, dass er das Abi nur schafft, wenn er genügend lernt. Und das tut er nicht, wenn jemand wie Helena ihm die ganze Zeit auf der Pelle hockt«, sagte ich so ruhig und nachdrücklich wie möglich.
»Das sehe ich auch so«, kam Jost mir zur Hilfe. »Sie sieht aus, als würde sie sich ausschließlich von Drogen ernähren.«
»Du und deine Vorurteile«, schnauzte ihn meine Mutter an. »Dich stört ja nur, dass Helena sich nicht den gängigen Modediktaten unterwirft und Mut zu einem individualistischen Styling hat.«
»Mich stört in erster Linie, dass sie stinkt«, sagte Jost.
»Du würdest auch stinken, wenn man dich zu Hause rauswerfen würde«, rief meine Mutter aus. »Sie hat die letzten Nächte bei Freunden gepennt, die eine alte Fabrikhalle bewohnen. Da gibt es, wenn überhaupt, nur kaltes Wasser. Und keine Heizung. Ein Skandal ist das. Ich für meinen Teil bin jedenfalls froh, dass ich Helena ein warmes Bett und unsere Gastfreundschaft anbieten konnte.«
»Und ich werde sie nach diesem Wochenende wieder rausschmeißen«, sagte ich. »Sonst wohnt dein Sohn demnächst auch in so einer Fabrikhalle, weil er nämlich ohne Abitur nicht mal einen Ausbildungsplatz bekommt.«
»Du hast meine volle Unterstützung, Hanna«, sagte Jost. Es geschah nicht oft, dass er sich
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