Luegensommer
Obwohl sie sich geschwächt fühlt, als wäre sie tatsächlich stundenlang gefahren, beschließt Marit aufzustehen.
Zu ihrer Überraschung hat sich der Rest der Familie bereits in der Küche zusammengefunden. Während sie im Nachthemd barfuß zur Kaffeemaschine schlurft, sitzt Ansgar fertig angezogen am Frühstückstisch und löffelt Cornflakes. Ihr Vater liest die Lokalzeitung, anscheinend wartet er auf die Rühreier, die ihre Mutter gerade zubereitet. Sie sieht müde aus, ihr Make-up kann die Ringe unter den Augen nicht völlig verbergen, aber als sie Marit erblickt, lächelt sie und wünscht ihr gewohnt munter einen Guten Morgen.
»Gibt es Neuigkeiten von Zoé?«, platzt Marit heraus, anstatt den Gruß zu erwidern, und erntet dafür einen missbilligenden Blick von ihrem Vater. Er war immer der strengere Elternteil, ein Familienoberhaupt alter Schule, ein Auslaufmodell, wie er selbst manchmal witzelt. Dass neuerdings immer mehr männliche Angestellte der Eisfabrik sich als Vertreter einer fortschrittlichen Vätergeneration entpuppen und sich monatelang in die Elternzeit verabschieden, erfüllt ihn mit Unverständnis. Seine Frau zieht ihn immer damit auf.
»Leider keine Neuigkeiten«, sagt ihre Mutter. »Möchtest du frühstücken?«
»Nein danke. Später vielleicht.« Auch wenn Marit auf diese Antwort gefasst war, ist sie enttäuscht. Es wäre wunderbar gewesen, wenn sich die ganze Angelegenheit über Nacht aufgeklärt hätte. Dann hätte der Sommer halbwegs unbeschwert seinen Lauf nehmen können. Jetzt droht Zoés Verschwinden alles zu überschatten.
Sie gießt sich einen Becher Kaffee ein. Bis vor Kurzem hat sie morgens Kakao getrunken, erst in den stressigen letzten Schulmonaten ist sie auf Kaffee mit viel Milch umgestiegen. Ihre Mutter wärmt sie mit derselben Selbstverständlichkeit für Marit auf, mit der sie ihnen Rühreier brät oder frisches Obst fürs Müsli zurechtschnippelt, jeder Handgriff eine kleine Liebesbekundung, denn Hilke Pauli ist keineswegs eine hingebungsvolle Hausfrau. Wenn sie Gäste zu bewirten hat, kommt meistens Lisbeth Buschke zum Einsatz.
Marit setzt sich auf die Bank zu ihrem Bruder, trinkt ihren Kaffee und denkt daran, dass sie künftig in ihrer Studentenbude den ganzen alltäglichen Kram allein bewerkstelligen müssen wird. Eine Umstellung, sicher. Aber nichts, was ihr Angst macht. Als die Morgensonne die Küche mit ihren blank polierten Arbeitsflächen aus hellem, sardischem Granit in orangefarbenes Licht taucht, macht sie sich bewusst, wie privilegiert sie ist, und das nicht nur, weil sie seit jeher im Wohlstand lebt. Sie hat eine Familie, die fest zusammenhält. Darauf kann sie immer zählen, egal, wo auf der Welt sie sich befinden mag.
Beim Frühstück besprechen Marits Eltern, was anliegt, einziger Tagesordnungspunkt: Zoé. Um neun wird die Bereitschaftspolizei ausgehend vom Fundort des Fahrrads in die Suche eingreifen, wie Winfried Pauli nach einigen Telefonaten zu berichten weiß. Auch die Spurensicherung wird erwartet. Trotz dieser Maßnahmen scheinen die Beamten Zoé für eine Ausreißerin zu halten, sie tun nur ihre Pflicht, und das eher schleppend, laut Marits Vater. Als Mitglied der Johanniter will sich Hilke Pauli für eine Alarmierung der freiwilligen Rettungshundestaffel starkmachen, wofür die Zustimmung der Polizei nötig wäre. Ansgar wird zusammen mit seinen Klassenkameraden in der Kreisstadt Flugblätter verteilen, eine Aktion, die nicht auf seinem Mist gewachsen sein dürfte, seiner Miene nach zu schließen.
»Da kann ich doch mitmachen«, sagt Marit sofort.
Ihre Eltern schütteln unisono den Kopf, als hätten sie den Vorschlag erwartet und ihren Standpunkt im Vorfeld abgesprochen.
»Warum denn nicht?«
Ihre Mutter räuspert sich. »Dein Vater und ich glauben, es ist besser, wenn du auf andere Gedanken kommst. Geh an den Strand, genieß deine Ferien. Du nimmst dir ohnehin alles schon viel zu sehr zu Herzen.«
Sofort fühlt Marit sich ausgegrenzt. Sie ist kein Kind mehr, es ist ihre Entscheidung, ob eine Sache zu belastend für sie ist oder nicht.
»Was du zu viel hast, hat dein Bruder zu wenig«, fügt ihr Vater hinzu. »Der hat die Ruhe weg, als wäre nichts passiert, stimmt’s, Ansgar? Wäre meine Freundin vermisst gemeldet, würde mich das nicht so kaltlassen. Ich würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen.«
»Ich wusste gar nicht, dass du eine Freundin hast«, entgegnet Ansgar, ohne von der inzwischen leeren Cornflakesschüssel aufzublicken,
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