Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
Vom Netzwerk:
nicht lange durchforsten, um Details der Verhaftung in Erfahrung zu bringen. Es gibt sogar Zeugenberichte, Pendler aus demselben Zug twittern, Ansgar habe einen verwirrten Eindruck gemacht und nach Bier gestunken.
    Alles andere bleibt Marits Vorstellungskraft überlassen, und in den fahlen Morgenstunden eines weiteren glutheißen Sommertages sieht sie ihn mit auf den Rücken gefesselten Händen in der Ecke einer Zelle kauern, das Gesicht blutig, ein Auge zugeschwollen von Schlägen der Polizisten oder seiner Mitgefangenen, professionelle Diebe und Totschläger, für die ein Mädchenmörder nichts ist als Abschaum. Kaum besser als ein Kinderschänder. Marit ist überzeugt, dass ihn auch dort, wo er sich jetzt befindet, unter Kriminellen und hartgesottenen Vollzugsbeamten alle für schuldig halten werden. Das liegt zum Teil auch an ihm selbst. Seine Art treibt jeden zur Weißglut und ist absolut ungeeignet, die Vorwürfe zu entkräften oder zumindest Zweifel zu säen.
    Während Marit sich düsteren Visionen vom Schicksal ihres Bruders hingibt, sind ihre Eltern offenbar entschlossen, sie, soweit es geht, aus allem herauszuhalten. Es ist zum Verrücktwerden. Als hätten die zwei einen Nichtangriffspakt unterschrieben, um das zarte Seelchen ihrer Tochter zu schonen, behandeln sie einander gleichermaßen distanziert und rücksichtsvoll, reden dabei ausschließlich über Banalitäten. Das hat sie gestern beim Abendessen schon bemerkt, doch da kam der Anruf der Polizei dazwischen.
    Marits Eltern sind miserable Schauspieler. Nichts stimmt mehr zwischen ihnen, der Austausch von Höflichkeiten gekünstelt, das Schweigen in den langen Gesprächspausen feindselig. Sie vergiften die Luft mit diesem Theater, davon wird einem übel, das merken sie selbst und hüsteln unentwegt, und doch können sie nicht anders, ebenso wenig wie Marit, die sich brav ans Drehbuch hält.
    Warum eigentlich? Was macht es so schwer, das Offensichtliche zuzugeben: dass sie allesamt Geiseln eines toten Mädchens sind? Das Verbrechen in ihrer Mitte drängt ihnen seit Langem überfällige Fragen auf – und immer noch weigern sie sich, darauf einzugehen. Marit wünschte, sie wäre stark genug, ihre Eltern zur Rede zu stellen. Ist sie aber nicht. Noch nicht. Wenig später ergibt sich die Gelegenheit von selbst.
    Kurz vor zehn bricht Hilke Pauli auf, um Ansgar im Gefängnis zu besuchen. Allein.
    Marit verlässt ebenfalls das Haus. Sie will zum Altersheim »Haus Waldschloss« fahren, um mit der Pflegedienstleiterin über Zoé zu reden. Vielleicht kann sie ja auch einige der Bewohner befragen, manche kennt sie ganz gut, zum Beispiel Frau Lilie, die beste Freundin ihrer Oma. Auch ihr Sportlehrer aus dem ersten Schuljahr lebt dort.
    Sie muss noch mal zurück, weil sie ihr Handy vergessen hat. In der Diele überrascht sie ihren Vater am Garderobenschrank, wo er aus unerfindlichen Gründen in der Schublade mit Stricksachen für den Winter kramt: Mützen, Schals, Handschuhe, die meisten etliche Jahre alt, viele noch von der Oma selbst gestrickt, ein fröhlich buntes Durcheinander.
    »Was suchst du denn da?«
    Er wirkt, als hätte sie ihn bei einer Gemeinheit ertappt, und geht, offenbar um eine Ausrede verlegen, direkt in die Offensive: »Gehört die Ansgar?«, fragt er und streckt ihr eine marineblaue Skimütze entgegen.
    »Es ist Juli. Draußen sind dreißig Grad. Glaubst du, Ansgar braucht im Gefängnis eine Mütze?«
    »Ob sie ihm gehört, habe ich dich gefragt und nicht, wie das Wetter ist.«
    »Keine Ahnung«, lügt Marit. Sie weiß hundertprozentig, dass es sich um Ansgars Mütze handelt. Im kalten letzten Winter ging er fast nie ohne sie aus dem Haus, das dürfte auch ihrem Vater eigentlich nicht entgangen sein.
    »Warum?«
    »Weil ich es eben wissen will. Aber spar dir die Mühe, das hier ist seine, ich bin mir sowieso sicher.«
    Er lässt Marit stehen und zieht sich in die Küche zurück. Mitsamt Mütze. Aus der offenen Schublade baumelt ein rotbrauner Schal, der ebenfalls Ansgar gehört. Allerdings hat er ihn in der Mittelstufe zuletzt getragen, soweit Marit sich erinnert.
    Gedankenverloren schließt sie die Schublade und folgt ihrem Vater. Er steht neben der Spüle und inspiziert die Mütze auf das Genauste, bis er gefunden hat, was er sucht: ein hellblondes Haar. Mit einer Pinzette pflückt er es aus dem Stoff, hält es vorm Fenster gegen das Licht, um es schließlich in einem gläsernen Röhrchen zu platzieren. Danach wiederholt er den Vorgang, ohne von

Weitere Kostenlose Bücher