Luegensommer
entschuldigt sich, was die Überspanntheit der Situation unterstreicht und damit alles nur noch schlimmer macht. »Das meinte ich nicht so.«
»Wie denn dann?« Marit hat Lust, einen Streit vom Zaun zu brechen, auch wenn sie sich auf der Fahrt hierher vorgenommen hat, genau das nicht zu tun, diesmal nicht. Es ist schon schlimm genug, wie es momentan zwischen ihr und Franka läuft.
Helene lächelt gequält.
»Ihr kotzt mich an«, sagt Marit zu niemand Bestimmtem.
»Komm«, erwidert Helene mit beinahe schon therapeutischer Besonnenheit. »Gehen wir Döner essen. Die gibt es ja auch ohne Fleisch.«
Beim Döner King in der Fußgängerzone sind alle Tische im Freien belegt. Da es nahezu unmöglich ist, die prall gefüllten Fladenbrottaschen im Gehen zu essen, ohne sich vollzukleckern, müssen sie sich ins stickige Innere des schlauchartigen Imbissladens zurückziehen, worüber Marit insgeheim froh ist. Bloß nicht erkannt werden. Nur ein Tisch ist belegt: zwei ältere Türken oder Araber, die Tee trinken, in ein Brettspiel vertieft. Der Mann hinter dem Glastresen behandelt sie mit derselben Freundlichkeit wie immer. Er spricht gebrochen Deutsch und Marit findet die Vorstellung beruhigend, dass er, wenn überhaupt, nur türkische Zeitungen liest. An den Wänden Poster von dunkelhäutigen Kickboxern. In einem ziemlich neu aussehenden Flachbildfernseher, der in der hinteren Ecke des Lokals an die Wand geschraubt ist, läuft ein Sportsender ohne Ton. Hier ist sie sicher.
Obgleich Marit das Frühstück ausgelassen hat und ihr Magen knurrt, bekommt sie kaum etwas hinunter, während sich Helene mit großem Appetit über ihre vegetarische Mahlzeit hermacht. Small Talk über das Wetter. Es kommt kein richtiges Gespräch in Gang, nach den langen Tagen der Funkstille ist es schwierig, einen Anfang zu finden.
Marit nippt an ihrer Bionade und betrachtet die Freundin: das goldene Halskettchen, die bunten Einlass-Armbänder der Musikfestivals, die sie diesen Sommer besucht hat. Das weißblonde Haar, genauso hell wie in ihrer Kindheit, inzwischen muss der Friseur bei der Farbe nachhelfen. Sie trägt es seitlich eingeflochten und im Nacken locker zusammengesteckt. Marit mag diese Art Gretchenfrisuren, sie waren ein Grund für sie, sich die Haare wachsen zu lassen. Aber sie bekommt das Flechten nicht richtig hin. Plötzlich erscheint es ihr beinahe unwirklich, dass Helene, diese temperamentvolle, junge Frau aus gutem Haus, eine ihrer besten Freundinnen ist, dass sie bis vor Kurzem noch genau so eine Art Mensch war. So überlegen. Inzwischen sieht Marit mit dem Bild, das sie sich von ihrer Vergangenheit gemacht hatte und das, wie sie allmählich begreift, zum großen Teil eine Lüge war, auch den eigenen Zukunftsentwurf verblassen – und damit ihre Identität.
»Was starrst du mich so an?«, fragt Helene.
Marit errötet. »Ach, nur wegen der Frisur. Wie du das hinkriegst, ist mir ein Rätsel.«
»Das ist echt total leicht. Ich wollte dir doch immer schon mal zeigen, wie’s geht. Soll ich heute Abend bei euch rumkommen?«
»Ein andermal.«
Marit wendet den Blick von der Freundin ab und sieht stattdessen zu, wie der Mann hinter dem Tresen mit einer elektrischen Säge Fleischstückchen von den rotierenden Spießen schneidet. Das rote Glühen der Heizspirale dahinter. Wie das Fett zischt auf dem heißen Edelstahl. Die Kickboxer in Siegerposen, die Schädel glatzköpfig, wie lackiert. So stellt Marit sich die Zellengenossen ihres Bruders vor.
»Ich dachte, du hast Hunger.« Helene holt sie aus ihren Gedanken.
»Dachte ich auch.«
»Du bist ganz schön fertig, oder? Kein Wunder. Wie geht es denn Ansgar?«
Alles hätte Marit erwartet – Neugier, Anschuldigungen, Schweigen –, nur nicht, dass sich jemand ernsthaft nach dem Befinden ihres Bruders erkundigt. Vorgetragen ohne jede Feindseligkeit, schnürt die Frage ihr erst recht die Kehle zu, unmöglich, jetzt noch einen Bissen hinunterzuwürgen.
Sie schiebt den Teller zur Seite. »Er ist von zu Hause abgehauen und wurde gestern verhaftet. Er sitzt jetzt …«, Marit muss sich zweimal räuspern, um einen Krampf in ihrer Halsmuskulatur zu lösen, »… in Untersuchungshaft.«
»Ja, ich weiß. Ich hab die Meldung verfasst. Aber wie geht es ihm?«
Marit zuckt mit den Schultern. »Meine Mutter besucht ihn gerade. Alle denken, er ist Zoés Mörder – wie soll es ihm schon gehen?«
»Aber du denkst etwas anderes?«
»Ja.«
»Und was genau denkst du? Hast du eine Idee, wer Zoé
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