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Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Seiten am Rahmen festhält.
    Sein Zögern kann sie nicht deuten: Ist er verärgert oder traurig? Ärger wäre am wahrscheinlichsten, aber ihr Vater sieht auf einmal tiefunglücklich aus. Er fährt sich durchs Haar, vermeidet es, ihr in die Augen zu sehen, und geht dann auf Abstand. »Ich wollte dich da nicht mit reinziehen, Marit. Es tut mir leid.«
    »Darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, dass du gerade echt Mist baust.«
    »Glaubst du?« Er wirkt jetzt überhaupt nicht mehr eiskalt, fängt an, im Arbeitszimmer auf und ab zu gehen wie in einem Käfig, die Aktentasche mit dem Umschlag darin unter den Arm geklemmt. Durch das Fenster flutet die Sonne herein und taucht den Raum und seine Unrast in ein viel zu heiteres, zeitloses Licht.
    »Ja, das glaube ich. Du kannst Ansgar jetzt nicht im Stich lassen. Der steckt total in der Klemme, er hat niemanden außer uns.«
    »Und wenn er nicht mein Sohn ist?«
    »Ja, genau: was dann?«
    Er bleibt ihr die Antwort schuldig.
    Haus Waldschloss kann warten. Marit ist viel zu aufgewühlt, da kam die SMS von Helene wie gerufen: » FOF « – Freund oder Feind? Ein Lichtblick. Freund natürlich. Freunde braucht jeder und Marit mehr denn je. Sie haben ein paarmal hin- und hergesimst, um sich schließlich für ein Uhr zu verabreden. Zum Lunch. Seit Helene bei der Zeitung arbeitet, isst sie nicht mehr wie früher Mittag, sondern geht lunchen.
    Um Helene zu treffen, muss Marit in die Kreisstadt fahren, ins Pressehaus. Ausgerechnet. Die angehende Journalistikstudentin könnte ihre Reportagen genauso gut daheim ins Notebook tippen und per Mail versenden, aber sie fühlt sich wohl in der Redaktion. Im Gegensatz zu Marit. Sicher, bis vor Kurzem fand sie es cool, Helene im sogenannten News-Pool zu besuchen, den Puls der Zeit zu ahnen, das Großraumbüro mit der langen Reihe hell leuchtender Flachbildschirme, ein Vorgeschmack auf die Studentenzeit in Hamburg, ein Fenster in die weite Welt. Aber das war, bevor die weite Welt Einzug in ihr Dorf hielt – und sie den eigenen unrühmlichen Auftritt im Fernsehen ertragen musste.
    Anstatt den Aufzug in die Lokalredaktion zu nehmen, wie die Empfangsmitarbeiterin ihr anbietet, lässt Marit sich lediglich telefonisch anmelden und wartet im Foyer. Als sie lustlos die aktuelle Ausgabe der Tageszeitung durchblättert, entdeckt sie eine Meldung über Ansgars Verhaftung. Nur ein paar Zeilen ohne Foto, auch sein Nachname bleibt unerwähnt, was nicht verhindert, dass sie sich fühlt, als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen. Verstohlen blickt sie zur Frau am Empfang hinüber, doch die telefoniert, ohne Marit zu beachten, die Miene unter der hochtoupierten und mit reichlich Haarspray zementierten Kurzhaarfrisur neutral wie die Schweiz. Dennoch fühlt Marit sich stigmatisiert.
    Ein helles Ping verkündet die Ankunft des Fahrstuhls. Helene im Jeansmini. Darüber trägt sie ihr blau-weiß gestreiftes Top, das im Nacken geknotet wird und ihre Oberweite noch imposanter erscheinen lässt, als sie ohnehin schon ist. Zur Begrüßung Wangenküsse beidseitig, daran hat Marit sich noch nicht gewöhnen können. Diese ritualisierte Vertrautheit. Früher reichte ein einfaches »Hallo«, wenn sie sich zum Spielen trafen.
    »Hey, Süße, da bist du ja schon. Schön, dich zu sehen. Wie geht’s dir denn? Müde siehst du aus«, legt Helene los. Marit vergräbt die Hände in den Taschen ihrer abgeschnittenen Jeans und sagt, sie sei bloß hungrig, worauf Helene zustimmend und eine Spur zu engagiert nickt. »Dann mal los. Wohin sollen wir gehen?«
    Als Marit Döner vorschlägt, verzieht die Freundin das Gesicht. »Du müsstest eigentlich mitbekommen haben, dass ich seit einem halben Jahr Vegetarierin bin.«
    »Immer noch?«
    »Na logisch. Das ist eine Gewissensfrage. Du solltest auch aufhören, Fleisch zu essen. Allein schon wegen der Umwelt, weißt du nicht mehr? Die weltweite Fleischproduktion hat eine katastrophale Klimabilanz, das hatten wir doch alles in der Projektwoche …«
    Marit verdreht die Augen.
    »Außerdem ist es Mord«, beeilt sich Helene, ihre Ansprache zu beenden.
    Die leichtfertige Verwendung dieses schwergewichtigen Wortes geht Marit an die Nieren und macht es beinahe unmöglich, diese ungesunde Mischung aus Zorn und Angst, die seit Tagen in ihr gärt, weiter in Schach zu halten. Die Frau am Empfang ist hellhörig geworden und lauscht mit unverblümter Neugier. Von wegen neutrale Schweiz.
    Mit einiger Verzögerung bemerkt Helene ihren Fauxpas und

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