Luegensommer
umgebracht haben könnte, wenn Ansgar es nicht war?«
Etwas in Helenes Stimme irritiert Marit, diese Mischung aus Anteilnahme und Distanziertheit, wie eingeübt. »Was soll das werden, Lene? Du interviewst mich nicht zufällig? Das hier ist ein privates Mittagessen!«
»Du isst doch gar nichts«, flachst Helene, doch als Marit bitterernst bleibt, hebt sie als Zeichen des Eingeständnisses beide Hände und verspricht: »Ich würde dich nie ohne deine Zustimmung zitieren.«
»Aber ohne meine Zustimmung ein Interview zu führen, das ist okay, oder was?«
»Siehst du hier irgendwo einen Block oder ein Aufnahmegerät? Sicher interessiert mich der Fall als Journalistin, aber das hier ist so lange ein privates Essen, bis du mir dein Einverständnis für eine Story gibst.«
»Hier geht es nicht um einen Fall oder eine Story, sondern um meine Familie«, stößt Marit hervor und merkt zu spät, dass sie ziemlich laut geworden ist. Der schrille Hall ihrer Stimme schwirrt durch das Lokal und dehnt sich aus. Aber weder der Wirt noch die anderen beiden Gäste sehen zu ihnen herüber. Die Dönersäge sirrt unermüdlich.
»Gerade weil deine Familie auf dem Spiel steht, müsstest du doch eigentlich froh sein, wenn sich jemand für deine Version der Geschichte interessiert«, sagt Helene betont leise und gelassen.
Womit sie eigentlich recht hat, ihre Herangehensweise ist trotzdem reichlich daneben. Immer noch verärgert schaut Marit auf ihren Teller, den angebissenen Döner, die Salatbeilage. Schade um das gute Essen, doch der Hunger ist wie weggeblasen.
»Weißt du, wer mich angerufen hat?«, fragt Helene.
»Wer?«
»Mimi Perlan. Diese Journalistin aus Berlin, die …«
Marit unterbricht die Freundin. »Ich weiß, wer Mimi Perlan ist. Mit der will ich nichts mehr zu tun haben. Was wollte die von dir?«
»Mich ausfragen. Über dich und deine Familie. Ihr kommt es auch so vor, als ob die Bullen sich die Sache zu einfach machen. Hauptsache, den Fall schnell abschließen, damit die Bevölkerung ruhig gestellt ist. Was wissen die schon? Dass Zoé freiwillig zu dem Täter in den Wagen gestiegen ist, weil ihr Fahrrad ordentlich verschlossen an der Landstraße stand. Also kannte sie den Kerl vermutlich. Okay, aber die scharfe Zoé kannte viele Typen. Ansgar hat ja nicht mal ein Auto.«
»Aber den Führerschein ab siebzehn auf Probe.«
»Und wenn schon. Die haben im Grunde nichts gegen deinen Bruder in der Hand, abgesehen von ein paar Zeugenaussagen über seinen Zoff mit Zoé. Na ja, und dann ist da noch die Tatsache, dass er abgehauen ist, was echt selten dämlich war.«
»Ansgar ist selten dämlich«, sagt Marit aus alter Gewohnheit. Seit der Mittelstufe hat sie viel Übung darin, ihn schlechtzumachen. »Da ist noch etwas: Soviel ich weiß, hatte er für die Tatzeit kein richtiges Alibi.«
Helene winkt ab. »Die wissen die genaue Tatzeit nicht. Bei Wasserleichen ist die nämlich fast unmöglich zu bestimmen. Sagt Mimi Perlan.«
»Jetzt hör doch mal mit Mimi Perlan auf.«
»Wieso? Die Frau steht auf unserer Seite.«
Schweigen. Marit trinkt langsam ihre Limo aus, während sie versucht, das Gehörte zu ordnen. Mimi Perlan, Helene und sie auf einer Seite, Verbündete gegen den Rest des Dorfes. Will sie das? Welchen Preis wird sie dafür zahlen müssen? Und hat sie eine Wahl?
»Ich will einfach nur die Wahrheit herausfinden«, sagt Marit. »Die Vorstellung, dass du und diese Mimi daraus anschließend eine große Geschichte macht, gefällt mir nicht.«
»Sei nicht blöd«, entgegnet Helene. »Wenn wir tatsächlich Ansgars Unschuld beweisen können, muss die Öffentlichkeit unbedingt davon erfahren. Das musst du doch auch wollen, alles andere ergibt keinen Sinn. Aber wenn er es doch war – was dann? Dann habe ich einen Gewissenskonflikt, weil du meine Freundin bist.«
»Das wird nicht passieren, Lene. Ansgar ist kein Mörder.«
Marit kaut auf der Lippe, während sie den Mini über die Landstraße steuert. Wobei von Steuern eigentlich keine Rede sein kann, es geht geradeaus, immer geradeaus, zu beiden Seiten flaches Weideland unter einem wolkenlosen Himmel. Ihre Gedanken hingegen jagen kreuz und quer oder drehen sich im Kreis. Allmählich wird ihr alles zu viel. Ansgar, ihre Eltern, Helene, Mimi Perlan – sämtliche Leute um sie herum geben ihr nur noch Rätsel auf. Die Berliner Journalistin hat ihr eine SMS geschickt, leicht zu erraten, von wem sie die Nummer hat, eine Bitte um Rückruf, zum »Brainstorming«. Marit wird
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