Luegensommer
über Schleichwege am Deich entlang nur eine gute halbe Stunde, sofern man nicht alle Verkehrsregeln befolgt und sich vor Schafherden in Acht nimmt.
Einmal sind sie spätabends auf eine halb abgebaute Kirmes gestoßen, und ein unermüdlich zwinkernder Schausteller hat das Kettenkarussell wieder angeworfen und einen schmalzigen Schlager aufgelegt – extra für sie.
Marit streckt sich auf dem Strandlaken aus und schließt die Augen. Im Moment ist sie seltsam versessen auf Erinnerungen, kann nicht aufhören, wieder und wieder zu den Glanzpunkten der vergangenen achtzehn Jahre zurückzuspulen, wie bei einer DVD ihrer Lieblingsserie. Im seichten Gewässer der eigenen Vergangenheit erweist sich die Gegenwart als angenehm bedeutungslos und sie dümpelt auf die Insel des Schlafs zu, bis Jan sich ihr in den Weg stellt.
»Willst du den Sonnenuntergang nicht sehen?«
»Doch, klar.«
Er hat ja recht. Sie sind hier, um Zeit miteinander zu verbringen, wenn sie schläft, schließt sie ihn erneut aus. Es war nicht böse gemeint. Nach dem Besäufnis vom Vorabend ist sie einfach müde.
Marit setzt sich auf und kuschelt sich in Jans Umarmung ein, entschlossen, diesmal alles richtig zu machen. Bisher ist das Rendezvous harmonisch verlaufen. Während der Fahrt haben sie Radio gehört und sich betont erwachsen über die Nachrichten unterhalten, Hauptdiskussionspunkt: mögliche Auswirkungen der Währungsspekulationen auf mittelständische Unternehmen wie das ihres Vaters und Möglichkeiten, sich gegen solche Risiken abzusichern. Als ob sie etwas davon verstehen würden.
Später am Meer der obligatorische Wattspaziergang: Händchen haltend dem auflaufenden Wasser entgegen. Alle paar Meter ein langer Kuss, seine Fingerspitzen auf ihrer Haut, ihre Körper fest aneinandergepresst, während die Füße mehr und mehr im warmen, weichen Schlick versanken. Die magischen Worte, sie zuerst:
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Jetzt sollten sie eigentlich vollkommen gelöst der Dunkelheit entgegenfiebern, dem Moment, in dem sie sich in seinen Schlafsack verkriechen, hoch über ihnen das Sternentheater. So machen es alle hier, dafür kommt man um diese Zeit her. Die Abendstimmung am Strand hat immer etwas Feierliches.
Doch sie sind außen vor. Marit kann die Unrast seiner Gedanken fühlen, eine wilde Hatz in seinem Innern. Das Schwierige ist, dabei nicht zu wissen, was er denkt, klar ist nur, dass er nicht richtig abschalten kann – ebenso wenig wie sie. Marit seufzt. Auf Dauer hat es keinen Zweck, einfach nur zur Tagesordnung überzugehen, ohne die Unstimmigkeiten der letzten Tage anzusprechen.
»Du fühlst dich also vernachlässigt.« Sie schmiegt die Wange an seine Brust. Wie schnell sein Herz schlägt.
Da Jan keine Antwort gibt, insistiert sie: »Helene hat dich zumindest so verstanden, vorhin im Telefon, als du offensichtlich etwas gesprächiger warst.«
Seine Finger zwirbeln die weichen Haare hinter ihrem Ohr. »Du weißt ja, wie sie ist. Denk jetzt bloß nicht, ich hätte mich bei ihr ausgeweint.«
»Genau das denke ich aber«, sagt Marit und kann, sosehr sie die körperliche Nähe zwischen ihnen auch genießt, nicht verhindern, dass sich ein zickiger Unterton einschleicht, worauf Jan sofort in die Defensive geht: »Tut mir leid.«
»Ich mache dir ja deswegen keinen Vorwurf. Das Dumme ist, dass ich mich ebenso vernachlässigt fühle.«
»Du?« Jan nimmt die Hand aus ihrem Haar. »Wer hat sich denn gestern Abend betrunken?«
»Und wer hat seine Mutter mitgeschleppt? Was sollte das eigentlich?«
»Ach, ich weiß nicht. Sie wirkt dauernd unglücklich in letzter Zeit, will es aber nicht zugeben. Ich glaube, sie ist traurig, weil ich bald ausziehe. Sie fürchtet sich vor dem Alleinsein.«
»Dann muss sie sich eben Freunde in ihrem Alter suchen. Über das Internet zum Beispiel. Oder am besten gleich einen neuen Partner«, sagt Marit.
Wegen der schiefen Haltung fängt ihr Rücken an wehzutun und sie rückt von Jan ab. Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass er sich um Ella kümmert, die beiden haben nun mal eine enge Bindung, doch eins steht fest: Ort und Zeitpunkt waren denkbar unglücklich gewählt angesichts der Schwierigkeiten, die sie gerade durchmachen.
»Ich dachte, du magst meine Mutter.«
»Ja, nur wollte ich dir gestern eigentlich erzählen, was ich alles über Zoé rausgefunden habe. Du hattest versprochen, mich bei meinen Recherchen wegen des Mordfalls zu unterstützen. Schon vergessen?«
Jans Gesicht
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