Luegensommer
deinen Bruder für den Täter. Anfangs war ich mir nicht sicher, aber inzwischen denke ich, die Polizei hat recht. Du musst mit diesen Spielchen aufhören, sonst sperren sie dich auch noch ein.«
Marit sieht ihm ins Gesicht, das vom Husten gerötet ist. Er ist sich seiner Sache sicher. Was immer sie antworten würde, sie könnte ihn nicht mehr von seiner Position abbringen. Denn er hat eine Entscheidung getroffen – eine Entscheidung gegen sie. Da es um ihren Bruder geht, hätte sie von Jan erwartet, sich auf ihre Einschätzung zu verlassen, einfach weil sie Ansgar besser kennt.
Doch das behält sie für sich, um die Kluft zwischen ihnen nicht weiter zu vergrößern. Stattdessen fragt sie: »Wollen wir eigentlich noch schwimmen gehen?«
Die Nordsee empfängt sie wie ein Planschbecken, lauwarm und ohne Temperament. Seicht versinkt das Land im Meer. Sie waten bis zu den Hüften hinein, Jan dicht neben ihr, unerreichbar.
»Wer als Erster an der Boje da hinten ist?«, fragt er und wirft sich in die Fluten, ohne ihre Antwort abzuwarten.
Der orangefarbene Schwimmkörper ist im schwindenden Licht kaum noch auszumachen. Marit schöpft mit beiden Händen Wasser und taucht ihr Gesicht hinein, während Jan auf die Boje zukrault. Seine Arme und Beine dreschen auf das friedfertige Meer ein, stellvertretend für sie, wie Marit befürchtet, denn eigentlich schwimmt er einen eleganteren Stil.
Als sie glaubt, dass er weit genug entfernt ist, zählt sie bis fünf, erst danach folgt sie ihm. Sie weiß, heute Abend wäre es ein Fehler, gegen Jan zu gewinnen.
Die ersten Züge schwimmt sie unter Wasser, hält Kurs nach Gehör, indem sie dem Rollen und Gurgeln folgt, das Jan umgibt. Wie oftmals beim Tauchen überwältigt sie das Gefühl von Schwerelosigkeit, das Element trägt sie, weil sie es zulässt, ihren Rhythmus seinem anzupassen. Marit schwebt, ihre Bewegungen geschmeidig und kraftvoll. Sie verspürt nicht das geringste Bedürfnis zu atmen.
Wenige Meter von Jan entfernt, durchbricht sie die Oberfläche und ihre Lungen füllen sich mit Luft. Hier draußen ist die See kühler und es herrscht leichter Wellengang. Sie hält kurz inne, bevor sie zu kraulen beginnt.
An der Boje erwartet Jan sie japsend und beschwert sich, sie habe ihn gewinnen lassen.
Aus unerfindlichen Gründen will er noch weiter ins offene Meer hinausschwimmen, was Marit für eine ganz miese Idee hält. So leicht sie sich unter Wasser empfunden hat, sind ihre Arme nun schwer geworden. Mit dem Weg zurück an den Strand ist sie genug gefordert und er erst recht. Es gibt bessere Schwimmer als ihn.
Sie hält sich an der Boje fest, die Straßenlaternen der Strandpromenade im Blick: eine lange Reihe kleiner Monde, jeder einzelne von einem Hof umgeben. Feuchte Luft. In den Hochhäusern hinter dem Deich sind die meisten Fenster beleuchtet, die Strahlkraft der Energiesparlampen zu schwach, um das nächtliche Meer zum Funkeln zu bringen. Vom Beach-Klub weht Musik herüber.
»Komm schon, Marit«, drängt Jan.
»Nein. Ich will nicht. Wir sind weit genug draußen, es wird immer dunkler, sei nicht leichtsinnig.«
»Jetzt spielst du wieder die Vernünftige. Wo ich mal was Verrücktes mit dir machen will.«
Etwas Hartes berührt ihre Wade, ein Schalentier. Die Oberfläche der Boje ist schlüpfrig und Marit hat Mühe, nicht abzurutschen, während ihr Verstand um Jans Vorwürfe rotiert, die für sie keinen Sinn ergeben.
Er stößt sich ab. »Na los, trau dich.«
Marit erkennt ihn kaum wieder. Seine Stimme klingt völlig abgedreht.
»Ich schwimme jetzt zurück«, ruft sie ihm zu.
»Mach, was du willst.«
Sie kraulen los, jeder in seine eigene Richtung, doch Marit bekommt schon nach wenigen Längen ein schlechtes Gewissen und kehrt um. Sie hat genug Kondition. Jan ist der Mann, den sie liebt. Wie kann sie zulassen, dass er aus Trotz sein Leben aufs Spiel setzt? Nur weil er – genau wie sie – nicht bewältigen kann, dass sie mitten in der ersten handfesten Krise ihrer Beziehung stecken.
Als sie Jan erreicht, ist er bereits ziemlich am Ende seiner Kräfte, sein Atem geräuschvoll, die Armschläge verkrampft, dennoch versucht er, ihr mit erhobenem Daumen weiszumachen, er habe Spaß. Ablandige Strömung. So weit draußen ist die Dünung achtbar, in manchen Wellentälern kann sie das Ufer nicht mehr erkennen. Unter ihnen schwarze Unergründlichkeit.
»Jan!«
Keine Antwort.
»Wir müssen zurück.«
Er schwimmt wie besessen, hält aufs offene Meer zu. Allmählich
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