Lukianenko Sergej
Besuch der Wache, weder schmutzige Stiefelspuren auf
dem Fußboden noch mit einem gezielten Tritt umgestoßene Stühle, zerschlagene Vasen oder Kraftausdrücke
und unanständige Zeichnungen an den Wänden. Auf den
ersten Blick schien noch nicht einmal etwas gestohlen,
selbst die zwei teuren Kerzenhalter standen wie gehabt
auf dem Kamin im Wohnzimmer, die edle Statuette aus
weißem Marmor, eine Kopie des berühmten Denkmals
der Lady Codiva, nur etwas freier ausgeführt, fand sich
an ihrem Platz. Anscheinend musste die Wache gegenüber dem Zauberer einen für sie ganz und gar unüblichen
Respekt hegen.
Trix sah sich aufmerksam um. Er schluckte den Kloß
in seiner Kehle hinunter und zwang sich, energisch, tapfer
und unsentimental zu sein.
Er hatte Ian mit gutem Grund befohlen, nicht ins Haus
zu kommen, schließlich konnten ihn hier die grauenvollsten Szenen erwarten. Trix hatte da einen gewissen Verdacht.
Die Wachleute hatten nur einen »Dieb« abgeführt, nur
die Fürstin Tiana. Hallenberry musste also noch hier sein.
Und da war es ja wohl nicht schwer zu erraten, was aus
dem kühnen Jungen geworden war, der für seine Fürstin
und Stiefschwester eingetreten war.
»Hauptsache, nicht mit dem Schwert!«, murmelte
Trix. Wenn nämlich das Blut eines unschuldigen Kindes
vergossen wird, stöhnt sein Geist noch lange des Nachts
im Haus. Das würde Sauerampfer gar nicht gefallen!
Doch im Wohnzimmer gab es keine Spur von Hallenberry. Auch in der Kammer für die Dienstboten fand sich
kein zerhackter oder totgeprügelter Körper, ebenso wenig
im Schlafzimmer des Magiers, im Studierzimmer, in der
Küche oder in dem windschiefen Anbau, in dem die
Blechwanne zum Baden stand. Dort entdeckte Trix allerdings eine weitere Tür, hinter der ein Abort lag, den er
gestern übersehen hatte. In der Hauptstadt war es sehr in
Mode, ans Haus eine Toilette anzubauen, damit man im
Winter nicht durch den Frost laufen musste. Er hielt den
Atem an und verzog angeekelt das Gesicht, als er in das
Loch spähte – von diesen Mistkerlen war ja alles zu erwarten! –, aber die stinkende Grube erwies sich als leer.
Nachdenklich kehrte Trix ins Wohnzimmer zurück. Im
Flur schnaufte Ian beleidigt beim Abladen der Einkäufe,
kam aber nicht ins Zimmer.
»Hallenberry!«, rief Trix.
Stille.
»Annette!«
Kein Ton.
Noch einmal durchstreifte Trix das Haus, öffnete systematisch alle Schränke und spähte in jede Ritze, in die
der magere, siebenjährige Junge gekrochen sein könnte.
In der Küche hatte Trix endlich Glück. Er öffnete den
unteren Teil des Küchenschranks (obwohl sich darin eigentlich nur ein dicker Kater verstecken konnte) und vernahm ein erschrockenes Fiepen. Er ging in die Hocke –
und fand sich Auge in Auge mit Hallenberry wieder, der
im Schrank saß, an die Rückwand gepresst und die Arme
um die Knie geschlungen. Auf seiner Schulter hockte die
Fee Annette, die sich mit ihren kleinen Händen die Augen zuhielt. Der Junge sah Trix ängstlich an und kaute
etwas.
»Was isst du?«, fragte Trix.
»Gummibonbons«, murmelte Hallenberry mit vollem
Mund. Er schluckte und sagte: »Hier lagen welche. Apfelgeschmack.«
»Na, da hat sich dein Aufenthalt hier ja gelohnt!«
»Ich habe die nur gegessen, um mehr Platz zu haben!«
Hallenberry versuchte, aus dem Schrank zu krabbeln.
»Hilfst du mir mal, klaro?«
Annette nahm nun auch eine Hand von den Augen und
lugte zu Trix hoch, um dann mit einem freudigen Piepser
aus dem Büfett zu fliegen und eine Pirouette in der Luft
zu drehen. Trix packte Hallenberry an den bonbonverklebten Händen und zog ihn aus dem Schrank wie einen
Korken aus der Flasche. »Wer hat dich bloß da reingequetscht?«
»Ich selbst!«, antwortete Hallenberry beleidigt. »Ich
hatte so große Angst.«
»Wo ist Tiana?«, rief Trix. »Wo ist die Fürstin?«
Entweder klang Trix’ Ton sehr bedrohlich oder Hallenberry fiel alles wieder ein – jedenfalls liefen plötzlich Tränen über sein von Bonbons und Spinnenweben verschmiertes Gesicht. »Sie haben sie mitgenommen!«, jammerte er.
»Der Magier der Vitamanten hat sie mitgenommen!«
»Was für ein Magier?«, fragte Trix. »Heul nicht!
Antworte!«
Stattdessen stieß Hallenberry einen markerschütternden Schrei aus und stierte angsterfüllt hinter Trix.
»So, ist alles im Haus!« Ian, der es vor Neugier nicht
mehr ausgehalten hatte, schaute zur Küche herein. Mit
einem Blick erfasste er die Situation, sprang zu Hallenberry und zog ihn zur Schüssel mit dem
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