Lukkas Erbe
Haare, zog die Puppe mit trübsinniger Miene aus und an, aus und an mit allem, was ihm zur Verfügung stand, und fragte sich vielleicht zum ersten Mal, warum er keine Zärtlichkeit geben und keine empfangen durfte.
Patrizia tätschelte höchstens noch einmal verstohlen seine Hand. Renate berührte ihn nie, legte ihm nie eine Hand an die Wange, küsste ihn nie auf die Stirn, wusste nichts von seiner Sehnsucht. Das letzte Fein in seinem Leben lag auf weichen Kissen in einer schönen Kiste, und immer war die Erde unberührt, wenn er auf den Friedhof kam. Aber wo war seine kleine Schwester, die ihn früher auch so oft gestreichelt und geküsst hatte, ohne dass sich jemand darüber aufgeregt hatte?
Bis dahin hatte er sich damit abgefunden, Tanja nie wieder zu sehen. Nun änderte sich das. Er wollte auch einen Menschen für sich. Jeder im Haus hatte einen, nur er war allein und grübelte, wo er nach seiner Schwester suchen könnte.
Renate Kleu verband den Besuch auf dem Friedhof meist mit Einkäufen in dem kleinen Supermarkt nahe der Kirche. Da hatte er dann wenigstens eine Viertelstunde für sich. Er nutzte die Zeit, um mit seinen Karten die Gräberreihen abzuschreiten. Jedes Kreuz, jeden Grabstein suchte er ab nach Zeichen auf der Karte seiner Schwester. Tanja. Es war ein junger Name, und es starben nur selten junge Leute im Dorf. Es gab keine Tanja.
Nachdem er das festgestellt hatte, vermutete er, dassTanja wieder bei Paul, Antonia, Annette und Achim war. Dort durfte er nicht hingehen. Dass auf dem Lässler-Hof alle böse waren, hatte Achim mit dem Messer in der Hand bewiesen. Er wollte nicht alle unter das Kinn schlagen müssen, solange es andere Möglichkeiten gab.
Bruno hatte seinem jüngsten Sohn Heiko und Patrizia strikt untersagt, ihm von Tanja zu erzählen. Doch das hatte Patrizia schon getan, lange bevor Bruno es verbot – am Tag der Beerdigung seiner Mutter. Und auch wenn er davon kaum etwas verstanden hatte, Bio, das hatte er sich gemerkt, wusste nur lange nicht, was es bedeutete.
Von Heiko hörte er es dann wieder und konnte es einordnen. Bio gehörte zur Schule. Leider wusste er nicht, wo die Schule war. Seine Schwester und Britta waren im Sommer mit ihren Rädern dorthin gefahren. Er hatte kein Rad. Heiko hatte eins, aber er ging morgens aus dem Haus. Zur Schule, das sagte er immer.
Und Renate hatte nichts dagegen, dass er Heiko am Morgen begleitete – zur Bushaltestelle am Ortsausgang. Dort stieg Heiko zusammen mit anderen in einen Bus. Er wollte ebenfalls einsteigen, doch ihn wollte der Fahrer nicht mitnehmen.
«Nur für Schüler», sagte der Fahrer.
Und Heiko sagte: «Geh nach Hause, Ben. Mutti hat gesagt, du sollst sofort zurückkommen.»
Er ging nicht. Sein Zuhause war dort, wo seine Mutter gewesen war. Bei Bruno hatte er nur ein schönes, großes Zimmer. Es war bei Bruno viel besser als bei den weißen Leuten, auch wenn es objektiv betrachtet keinen großen Unterschied gab, keine Freiheit. Aber niemand stach ihn mit Nadeln, niemand zog ihm die Jacke an, in der er seine Arme nicht mehr bewegen konnte, niemand band ihn am Bett fest, niemand stahl seine Bilder.
Bruno klopfte ihm auf die Schulter und nannte ihnKumpel. Renate war immer freundlich und lobte ihn, wenn er das Geschirr in die Maschine räumte. Patrizia malte ihm viele Karten und sagte ihm, in welchem Kleid die Barbie-Puppe schön aussah. Heiko schenkte ihm jedes Auto aus seinem Zimmer, das er haben wollte. Nur Dieter war noch böse mit ihm und sagte manchmal: «Lass die Finger von Patrizia, sie ist meine Freundin.»
Und Heiko sagte, es könne nicht jeder eine Freundin haben, er hätte auch keine. Aber Heiko hatte Freunde. Ben hatte nur noch seine kleine Schwester. Er wartete.
Etwas später kam noch ein Bus, aber der wollte ihn auch nicht mitnehmen. «Bis Lohberg zweizwanzig», sagte der Fahrer, «oder haben Sie eine Karte?»
Natürlich hatte er eine Karte, er hatte viele, zeigte TANJA. Und der Fahrer verlangte, dass er zurück auf die Straße ginge. Er versuchte es mehrfach, aber egal, was er zeigte, auch mit HAUS, AUTO oder KUHSTALL wollte ihn niemand mitnehmen.
Wiedersehen
Patrizia, die nicht regelmäßig den Schulbus nahm, wurde kurz vor Beginn der Sommerferien einmal Zeugin seiner Versuche, mit den Karten in den Bus zu kommen. Ihr tat es entsetzlich Leid. Und dann schnappte sie während der Pause auf dem Schulhof auf, dass Tanja am Sonntagnachmittag zusammen mit Antonia die Eisdiele in Lohberg besuchen wolle.
Die
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