Lustakkorde - Ostfrieslandkrimi (German Edition)
dieser Welt beschützen würde. Heute war so ein Tag. Kaum, dass sich die
fahle Wintersonne für kurze Zeit am blassblauen Himmel zeigte und zaghaft ihre
noch schwachen Strahlen zur Erde ausstreckte, wurde sie auch schon wieder von
dunklen Schneewolken vertrieben, und das Schauspiel begann von neuem. Gerne zog
sie sich dann warm an, nahm ihren braunen Mischlingshund Heinrich an die Leine
und machte sich auf zu einem ausgiebigen Winterspaziergang über Feld und Flur,
immer die alte, inzwischen geteerte Kleinbahnstrecke entlang, bis sie rechts
des Weges die Bungalows von Haskamp und später dann am Kanal die roten
Backsteinhäuser von Hinte vor sich auftauchen sah. Auch Heinrich liebte den
Schnee. Sobald sie ihn von der Hundeleine befreit hatte, raste er wie toll über
die verschneiten Wiesen und Wege, wobei er wie ein Trüffelschwein mit
sichtlicher Freude die Schnauze durch den Schnee pflügte und aufgeregt bellend
um Katharina herumsprang.
An diesem Tag aber wollte sie mit
ihrem Spaziergang warten, bis ihr Sohn Jonathan sich einigermaßen beruhigt
hatte. Die Nachricht vom Tode Raffael Winters hatte ihn sehr mitgenommen.
Schreckensbleich hatte er am gestrigen Abend plötzlich in ihrem Wohnzimmer
gestanden und andauernd Raffael ist tot, Raffael ist tot vor sich
hingestammelt. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er in der Lage gewesen
war zu erzählen, was passiert war. Völlig aufgelöst hatte er berichtet, dass er
gegen Abend nochmals bei Raffael an der Wohnung gewesen sei, weil er mit ihm habe
reden wollen. Überall hätten Polizeifahrzeuge herumgestanden, und die
Polizisten hätten ihn nicht hineingelassen, obwohl er immer wieder flehentlich
beteuert habe, der Lebensgefährte von Raffael Winter zu sein und er diesen doch
nur besuchen wolle. Nun, habe da einer Polizisten kühl zu ihm gesagt, dieser
Besuch habe sich sowieso erledigt, da Herr Winter mausetot sei. Deswegen stehe
man hier ja schließlich seit geraumer Zeit mit inzwischen fast abgestorbenen
Füßen in der Kälte herum. Hineinlassen dürfe er niemanden, schon gar keinen
angeblichen Lebensgefährten. Denn seines Wissens sei Herr Winter alles andere
als gebunden, sondern vielmehr als der größte Schwerenöter von ganz Emden bekannt.
Wie ein Betrunkener sei Jonathan daraufhin durch die Straßen der Stadt
gelaufen, bis er schließlich vor der Tür seiner Mutter gestanden habe.
Katharina konnte nicht behaupten,
dass ihr der Tod Raffael Winters besonders leid tat. Nur um ihren Sohn machte
sie sich Sorgen. Wie würde er es verkraften, zukünftig ohne seine große Liebe
auszukommen? Katharina hoffte, dass er schon bald erkennen würde, wie sehr er
eigentlich unter der vertrackten Beziehung zu dem Musiklehrer gelitten hatte. Sie
war überzeugt, dass er schon bald dankbar sein würde, dass dieses unglückliche
Kapitel seines Lebens einen zwar schmerzlichen, aber auch reinigenden Abschluss
gefunden hatte. Er konnte sich nun wieder voll und ganz auf seine Arbeit
konzentrieren, die unter dem ständigen Zinnober um Raffael Winter stark
gelitten hatte. Und sicherlich würde er irgendwann einen neuen Mann finden, der
ihn nicht betrog und mit dem er auf Dauer glücklich werden konnte. Katharina
seufzte schwer. Sie wünschte es ihm so sehr!
Gerade, als sie ihren
Zigarettenstummel im eigens dafür aufgestellten Aschenbecher ausdrückte, hörte
sie ein paar nackte Füße, die über den Holzfußboden ihres Wohnzimmers in
Richtung Terrassentür platschten. Sie drehte sich um, und ein Lächeln erschien
auf ihrem Gesicht, als sie ihren zerzausten und völlig übernächtigten Sohn in
grauer Jogginghose und pinkfarbenem Sweatshirt vor sich stehen sah. „Komm,
Jonathan“, sagte sie und strich ihm im Vorbeigehen über die blasse Wange, „ich
mache uns jetzt einen schönen heißen Tee. Magst du auch was frühstücken?“
Jonathan schüttelte den Kopf. Er
würde nie wieder einen Bissen herunterkriegen, das war ja wohl klar. Mit
verstörtem Blick schlich er in Richtung Haustür und holte die Zeitung aus dem
Briefkasten. Er hoffte immer noch, dass er nur schlecht geträumt hatte. Aber
schon auf der Titelseite der Emder Zeitung belehrte ihn die in fetten Lettern
gedruckte Schlagzeile eines Besseren: Mord in der Faldernstraße. Junger
Musiklehrer wurde erschlagen aufgefunden .
„Erschlagen“, murmelte Jonathan,
und seine ohnehin schon blasse Gesichtsfarbe nahm die Farbe von bleichem Wachs
an. Schwer ließ er sich auf einen Küchenstuhl sinken und die Zeitung auf
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