Lustnebel
„Die Biester haben mir meinen schönsten Brugmansia-Strauch hoffnungslos ruiniert. Erst fraßen sie die trompetenförmigen Blüten und dann die grünen Blätter.“
„Einen Eurer Büsche hinter dem Haus?“, vergewisserte sich Rowena.
Alice nickte und wedelte mit der freien Hand, um das Schaf zu verscheuchen.
„Wie schade. Ihr wisst, wie sehr ich diese Gewächse bei einem meiner letzten Besuche bewunderte, Alice“, erwiderte Rowena. Sie überlegte, wie sie das Gespräch in die entsprechenden Bahnen lenken konnte, um Alice diskret auszufragen.
Der Boden unter ihren Füßen schmatzte bei jedem Schritt, und sie wunderte sich, dass Alice keine Anstalten machte, etwas weiter rechts zu wandern. Unbeirrt lief die Frau durch das hohe Sumpfgras und schien nicht im Mindesten erschöpft zu sein.
„Meine Brugmansias sind etwas Besonderes“, stimmte Alice zu. Sie sah zu Rowena. „Sie stammen aus Amerika. Wusstet Ihr das?“
Da Alice ihr das seinerzeit berichtet hatte, nickte Rowena mit leichter Irritation. Bezweckte Alice etwas mit der Aussage, oder war es lediglich dem Vergessen, Rowena davon berichtet zu haben, geschuldet?
„Lucien, Entschuldigung, ich meine Lord Windermere, brachte mir die Setzlinge von seiner letzten Reise mit“, erzählte Alice. Sie tätschelte Rowenas Arm.
„Es muss schwer für Euch sein, auf dem Land wohnen zu müssen. Noch dazu mit einem derart introvertierten Mann wie Lord Windermere.“
„Ich bin zufrieden“, erwiderte Rowena.
Alice stoppte, gab Rowenas Arm frei und holte ein Spitzentaschentuch aus einer Tasche ihres weiten Rockes hervor. Sie tupfte ihre Augenwinkel ab. Stirnrunzelnd betrachtete Rowena die Blondine, unsicher, was sie von dem Benehmen halten sollte.
„Liebste Rowena, es tut mir so leid“, schniefte Alice und verbarg ihr Gesicht in dem Tüchlein.
Verwirrt beobachtete sie Alice. Die Frau stand reglos da. Irgendwo war das Maunzen eines Kätzchens zu hören, und Rowenas Hand juckte mit einem Mal heftig. Sie kratzte sich, und ein kurzer Blick zeigte ihr, dass die braunen Flecken, die sie seit ihrem Schwitzhüttenritual auf dem Handrücken hatte, größer schienen als gewöhnlich. Sie schloss ihre andere Hand darum, als würde das den Juckreiz stillen.
„Ihr kennt Euren Gemahl wirklich nicht so gut wie ich.“ Alices Augen glänzten feucht. „Ich bedauere Euch so sehr, liebe Rowena!“
Rowenas Magen verkrampfte sich. „Wovon redet Ihr, Alice?“
„Ich lernte Euren Gemahl unter dem Namen Lucien kennen.“ Alices Stimme klang sanft und einschmeichelnd. „Die anderen Frauen waren hingerissen von ihm, doch er beachtete sie nicht. Er zog es stets vor, sich männliche Bettgespielen zu suchen. Man munkelte bereits, er sei ein Homophiler.“ Alices Augen wirkten kalt wie Diamanten. Ohne genau zu wissen warum, begann Rowena zu frösteln. Ihre Füße wollten zu Eisklumpen erstarren.
Alices Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ich weiß nicht, welchen Grund er hatte, doch eines Tages nahm er mich mit auf sein Zimmer.“
Rowena konnte nichts weiter tun, als Alices Worten zu lauschen. Obwohl sie sicher glaubte, dass die Blondine log, wollte sie hören, was diese ihr erzählte.
„Er fügte mir Schmerzen zu. Und es bereitete ihm Vergnügen. Großes Vergnügen.“ Alice wandte ihr Gesicht ab. „Ihr wisst, dass ich die Wahrheit sage, nicht wahr?“, flehte sie mit ersticktem Tonfall.
Rowenas Herz krampfte sich zusammen. Der Juckreiz an ihrer Hand verstärkte sich, wurde fast unerträglich.
Alice drehte sich um. „Lucien ist ein böser Mann. Ihr dürft ihm nicht trauen.“
Rowena starrte auf Alices Rücken, hin- und hergerissen zwischen ihren Gefühlen und Alices Worten. Sie erinnerte sich an die abweisende Art Chaytons, an seine Heimkehr eines morgens in blutverschmierten Kleidern, und sie rief sich die letzten Tage mit ihm ins Bewusstsein. Sein Geständnis und die Zärtlichkeiten, die er ihr schenkte. Ihr Herz wollte nicht glauben, was Alice behauptete.
„Alice, es tut mir leid, was Euch widerfuhr. Doch ich kann nicht glauben, dass Chayton zu derartiger Rohheit fähig ist, wie Ihr sie erlebtet. Ihr müsst Euch täuschen“, erklärte sie.
Alice stieß einen wütenden Schrei aus, und Rowena zuckte erschrocken zusammen.
„Ich wusste, dass Ihr mir nicht glauben würdet!“, kreischte sie. Alice stürzte sich auf Rowena und schubste sie grob zu Boden. Ihr stockte für einen Moment der Atem. Angst mischte sich mit eisigem Schmerz zu einem wummernden Rauschen in
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