Lustnebel
die Hände.
„Lady Windermere!“ Ihre Augen blitzten unbeschwert, und Rowena lächelte.
„Betsy, seit wann bist du hier?“
Die Zofe wiegte den Kopf hin und her. „Ich bin mir nicht sicher. Ich habe die Sachen in Eurem Elternhaus eingepackt und bin auf direktem Weg hierhergekommen. Gerade eben habe ich die letzten Dinge eingeräumt“, erzählte Betsy.
Rowena nickte und ließ sich auf dem Stuhl der Schminkkommode nieder. Betsy stellte sich hinter sie und begann, ihr die Haarnadeln aus der Frisur zu lösen.
Rowena seufzte zufrieden, als die letzte Nadel entfernt war und ihr Haar lose über ihren Rücken hing. Die Strähnen strichen darüber und kitzelten ihren Nacken. Sie genoss das Gefühl der weichen Haare auf ihrer Haut. Betsy griff nach der Bürste und entwirrte langsam die langen Flechten. Vorsichtig glitt und zog sie die Haarbürste durch. Sie wiederholte den Vorgang, bis Rowenas Haar wie Seide knisterte.
Anschließend frisierte Betsy Rowenas Schopf zu einem Chignon und half ihr, aus dem Hochzeitskleid in ein bequemeres Nachmittagskleid zu schlüpfen.
Unschlüssig stand Rowena im Raum. Die Verbindungstür zu Chaytons Gemach schien sie anzustarren. Ihr Herz klopfte nervös, und sie biss sich auf die Lippen. Wo mochte er sich aufhalten? In seinem Schlafzimmer herrschte Stille. Er musste sich irgendwo im Haus befinden.
Sie unterdrückte das ängstliche Zittern, das in ihre Glieder krabbelte, nach außen drängte und ihre Nerven zum Vibrieren brachte. Sie erinnerte sich, dass er ihr angekündigt hatte, ihr Bett aufzusuchen und ihr beizuwohnen. Immerhin wusste Rowena, was sie zu erwarten hatte. Damit war sie aufgeklärter als die meisten anderen Frauen in ihrer Position. Eiseskälte durchzuckte sie, als ihr ein schockierender Gedanke kam. Würde Chayton es bemerken, dass sie nicht mehr jungfräulich war?
Betsy lächelte wohlwollend. „Es ist nicht so schlimm, wie Ihr fürchtet, Lady Rowena“, erlaubte sie sich zu sagen.
Rowena nickte stumm. Sie konnte schwerlich zugeben, genau zu wissen, was sie erwartete.
„Ich werde mich im Haus umsehen. Bis auf das Arbeitszimmer wird es wohl keine Räume geben, die mir verwehrt sind“, verkündete Rowena.
Betsys Miene blieb unbewegt, doch ihr Blick verriet sie. Offenbar hatte man sie bereits in das Mysterium des Arbeitszimmers eingeweiht.
„Was weißt du darüber, Betsy?“
Die Zofe schüttelte den Kopf. „Nichts weiter, Lady Rowena“, behauptete sie.
Rowena trat zu ihr und berührte ihren Arm. „Bitte, Betsy, wenn du etwas weißt, musst du es mir sagen. Ich habe ein Recht darauf!“, beharrte sie.
Betsy blinzelte ein paarmal und strich sich über den Rock, ehe sie zu antworten geruhte. „Man hat mir zugetragen, dass Lord Windermere etwas zu verbergen scheint. Manchmal tauchen Leute auf, und kurz darauf verschwindet der Lord. Sein Arbeitszimmer darf außer dem Butler Arthur niemand aus der Dienerschaft betreten. Die Tür ist stets abgeschlossen, und der Lord besitzt den einzigen Schlüssel.“
Rowena runzelte die Stirn und tätschelte Betsys Unterarm. „Ich danke dir für die ehrliche Antwort.“ Sie raffte ihre Röcke. „Ich werde mich im Haus umsehen. Gibt es etwas, das ich unbedingt erfahren sollte?“
Betsy verneinte, und so verließ Rowena ihre Privatgemächer für einen Erkundungsrundgang. Im Obergeschoss gab es neben geschmackvoll eingerichteten Räumen eine Wäschekammer, eine Besenkammer und einen Gang hinüber in den Dienstbotentrakt, den Rowena bei ihrer Besichtigung ausließ. Stattdessen stieg sie in den Dachboden hinauf. Die Tür knarrte leise, als Rowena sie öffnete.
Der Speicher war düster. Goldene Sonnenstrahlen fielen durch ein schmales Sprossenfenster, und Staub tanzte in ihrem Licht. Rowena nieste und versetzte einen Teil der Staubkörner in Aufregung. Sie wirbelten und hüpften in ihrem sonnigen Tunnel umher und glitzerten silbrig. Rowena hielt inne und bewunderte das Schauspiel, ehe sie einen Schritt in den Raum hineinmachte.
„Madam?“
Rowena erschrak und trat auf die Treppe hinaus. Am Fußende blickte Arthur vorwurfsvoll hinauf.
„Lady Windermere, kann ich Euch behilflich sein?“ Seine Stimme troff vor Jovialität, doch Rowena ahnte, dass der Dachboden zu den Orten gehörte, die sie nicht aufzusuchen hatte. Sie entschied, dass ein leerer Speicher es nicht wert war, einen ersten Machtkampf auszufechten. Nicht am ersten Tag als Marchioness of Windermere. Nicht ehe sie ihre Stellung sondiert hatte. Sie ahnte, dass der
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