Lustnebel
in sich aufsteigen, gegen die sich die kalte Steinwand in ihrem Rücken nahezu kuschlig warm anfühlte.
Was würde Chayton von ihr denken, wenn er es herausfand? Diese Schande würde sie nicht ertragen! Tränen schossen ihr ungewollt in die Augen. Ihr Herz schmerzte, und ehe sie in einem Gefühlswirrwarr zu versinken drohte, raffte sie ihre Röcke und lief den Garten hinaus, zurück auf den Trampelpfad. Die kleinen Flecken an ihrer Hand juckten, als sie den Garten durchquerte. Gedankenverloren kratzte sie sich. Als Rowena an den Büschen vorbeikam, vernahm sie eine heisere Stimme: „Lady Windermere.“
Rowena erstarrte.
„Dreht Euch nicht um!“, befahl die Stimme.
„Wer seid Ihr?“ Rowena biss sich mit angehaltenem Atem auf die Unterlippe.
„Das tut nichts zur Sache“, erwiderte die unbekannte Person. Sie konnte nicht identifizieren, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Zweige raschelten, und sie vermutete, dass der Redner sich im Gebüsch verbarg. „Vergesst, was Ihr im Haus gesehen habt. Hört auf, neugierige Fragen zu stellen, und haltet Euch von den Cuthberts fern.“
„Was wollt Ihr?“, verlangte Rowena zu wissen, erleichtert, dass man ihren Worten die Furcht nicht anmerkte, die sich ihrer bemächtigte.
„Befolgt meinen Rat. Ihr wollt doch nicht enden wie Eure Cousine Claire?“
Ein scharfer Schmerz durchschnitt Rowenas Innerstes. Einen Moment lang beutelte Übelkeit sie so intensiv, dass sie würgte. Sie überhörte das Rascheln der Büsche beinahe und drehte sich um. Sie konnte gerade noch eine hochgewachsene Gestalt im roten Seidenumhang um die Hausecke verschwinden sehen. Rowena zögerte einen Moment. Dann entschied sie, nach Hause zu gehen. Zurück in die Sicherheit Barnard Halls.
Als sich die Mauern von Barnard Hall vor ihr erhoben, schmerzten ihre Füße, ihre Röcke waren nass, schmutzig und an einer Stelle gerissen, weil sie sich in Dornengestrüpp verfangen und mit ungeduldigem Zerren befreit hatte. Ihr Leibchen klebte schweißnass an ihrem Rücken. Sie schob sich müde einige wirre Strähnen aus dem Gesicht und schluckte trocken. Obwohl sie nicht nur durstig, sondern auch hungrig war, wusste sie, dass sie keinen Bissen hinunterbringen würde. Den ganzen Weg über hatte sie daran denken müssen, wie Chayton wohl reagieren würde, erführe er von der Verdorbenheit seiner Gemahlin. Von ihren promisken Erfahrungen und von ihrer Schuld am Tod ihrer Cousine Claire.
Erschöpft und deprimiert, wie sie war, konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Heiß und dick tropften sie über ihre Wangen. Sie ließ sich in das Gras sinken, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich die Röcke nun vollends ruinierte. Sie zog ihre Knie an die Brust und fühlte sich verwirrt, überfordert. Alles war zu viel. Die letzten Monate waren eine einzige Strapaze gewesen. Jedes Mal, wenn sie glaubte, die Zukunft vor sich zu sehen wie eine offene, gerade Landstraße, blockierte ein Fuhrwerk ihren Weg.
Unter ihrem Kleid fühlte sie die Wärme ihres Türkis, den sie an einer Kette um den Hals trug, seit dem Tag von Claires Beerdigung. Rowena legte die Hand an die Stelle, an der sie den Stein spürte.
Sie schluchzte. Was Alice und ihr Gemahl Wilson trieben, war deren Sache. Es ging Rowena nichts an. Sie war die Letzte, die den Stab über diese Ausschweifungen brechen durfte. Doch dass Derartiges in ihrem Umfeld stattfand, beunruhigte sie nach ihren eigenen Erfahrungen im Hellfire Club . Falls sie jemand erkannte und dies Chayton erzählte? Und wenn Claires Mörder nun sie ins Visier nahm? Sie aus dem Weg räumen wollte wie Claire und das Dienstmädchen aus dem Clubhaus, ehe Chayton Rowena nach Barnard Hall brachte? Sie hatte nicht vergessen, dass Silbermaske vor ihrem Londoner Haus herumgelungert hatte. Nun tauchte Turnbull im Lake District auf und kannte obendrein die Cuthberts. Konnte es einen solchen Zufall geben? Sie wischte sich über das Gesicht, als könnte das ihren Geist klären. Nach den Erzählungen der Cuthbert’schen Gäste war Rowena unschlüssig, ob nicht sogar die anderen Todesfälle mit dem Hellfire Club in Zusammenhang standen. Irgendetwas störte sie an der ganzen Sache. Es war, als läge die Lösung vor ihrer Nase. Wie die sprichwörtliche Karotte, die vor der Nase des Esels baumelte, die zu erreichen ihm jedoch unmöglich war.
Die Nässe, die ihre Haut erreichte, schickte Rowena zurück in die Gegenwart. Sie hob ihren Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Es
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