Lustvolles Erwachen
Nachtwäsche. Sie fürchtete, dass sie wie ein verirrtes Kind zu weinen anfangen würde, wenn sie jetzt den Mund öffnete. Und dass sie erst aufhören würde, wenn auch der letzte Rest ihres Stolzes und ihrer Selbstachtung sich auf den Boden ergossen hätte.
Das Schlimmste war, dass sie durch das, was sie gesehen hatte, noch immer erregt war. Ihr Körper verhielt sich alles andere als vernünftig. Ehre oder Verrat oder Scham waren ihm egal. Er hungerte. Er hungerte nach Diccan. Nachdem Schroeder gegangen war, schloss Grace die Augen, als wäre sie dadurch unsichtbar. Und dann verschaffte sie sich Erlösung, wie ihre Freundinnen in den Zenanas es ihr beigebracht hatten, während sie vor ihrem inneren Auge Diccan sah, der seine Geliebte wie ein Tier nahm. Aber am Ende verspürte sie keine Erleichterung. Den Rest der Nacht lag sie wach und rührte sich nicht, damit sie nicht noch den Rest von Selbstbeherrschung verlor und vor Schmerz in tausend Stücke zersprang.
Wie hatte Diccan das tun können? Wieso hatte der Mann sie gezwungen zuzusehen? Wie konnte sie je wieder Diccan oder Onkel Dawes oder sonst irgendjemandem gegenübertreten, den sie kannte, wenn Diccans Worte wie ein Todesurteil in ihrem Kopf widerhallten? Ich habe sie geheiratet. Ich will verdammt sein, wenn ich auch noch mit ihr schlafen muss.
Erst spät am nächsten Morgen gelang es Grace’ Verstand, den lähmenden Schmerz zu durchdringen. Sie hatte ihren Kaffee mit in den Garten genommen, um Diccan nicht zu begegnen, und saß auf der Bank, die an der Gartenmauer stand. Von hier aus konnte sie die letzten Rosenblüten und die Esche sehen, deren Blätter schon gelb wurden, und sich vorstellen, sie wäre auf dem Land.
Das mochte der Grund dafür sein, dass ihr Geist sich so weit beruhigte, dass die winzige Stimme der Vernunft sich durchsetzen konnte. Ja , dachte sie, Diccan hat mich betrogen . Es würde immer wehtun. Sie könnte es nie vergessen, und sie war sich nicht sicher, ob sie es ihm jemals verzeihen würde. Doch hatte er auch sein Land verraten?
Onkel Dawes hatte es offensichtlich geglaubt. Grace vertraute ihrem Onkel. Sie kannte den Mann und konnte sich nichts vorstellen, das ihn dazu treiben würde, sie unnötig zu verletzen.
Aber sie kannte auch Diccan. Zumindest kannte sie ihn so gut, um zu wissen, dass er bereit war, Annehmlichkeiten für die Ehre zu opfern. Er hätte sich um die Heirat herumdrücken können. Egal, was er gesagt hatte, er wäre vermutlich zu nichts verpflichtet gewesen. Doch er hatte nicht zugelassen, dass Grace die ganze Last der Schande allein tragen musste. Und damals in Brüssel war es ihm ohne Probleme und ganz diskret gelungen, Jack Wyndham und seine Informationen zurück nach England zu schleusen.
Bis Onkel Dawes bei ihr zu Hause aufgetaucht war, hatte Grace Diccan lediglich verdächtigt, ein ausschweifendes Leben zu führen. Obwohl sie gehört hatte, dass er seiner Geliebten seine Dienste angeboten hatte, konnte sie noch immer nicht glauben, dass er seinem Vaterland tatsächlich Schaden zufügen wollte.
Die einzige Person, die sie in diesem Spiel nicht kannte, war Mr. Carver, und die Beschuldigung, Diccan wäre ein Landesverräter, kam allein von ihm. Er behauptete, für das Innenministerium zu arbeiten, aber es wäre dumm von ihr, irgendetwas zu tun, ohne sich vorher zu erkundigen, ob er die Wahrheit sagte. Und das bedeutete, dass sie sich von dieser kleinen Bank erheben und etwas tun musste.
Normalerweise hätte sie sich zuerst an Kate gewendet. Doch Onkel Dawes hatte Mr. Carvers Warnung noch einmal wiederholt. »Sie ist Hilliards Cousine. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass sie nicht sofort zu ihm geht und ihm alles erzählt.«
Auch wenn Grace es nicht gern zugab – er hatte recht. Kate würde sofort zu Diccan gehen, und der würde ein Ablenkungsmanöver starten, bevor Grace die Wahrheit erfuhr.
Aber Grace konnte es Kit Braxton erzählen. Kit hatte bei der Rettung von Jack Wyndham und bei der Gefangennahme des Chirurgen ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt. Sie wusste, dass er sein Vaterland liebte. Kit war Thronanwärter in einem Herzogtum. Doch statt sich auf diese Zukunftsaussichten zu verlassen und sein Leben zu genießen, hatte er sich in den Dienst an der Waffe eingekauft und wäre beinahe für sein Vaterland gefallen. Grace konnte sich darauf verlassen, dass er die Wahrheit herausfand – und dass er diskret war.
»Ein Spion?«, fragte er, als sie später zusammen im Hyde Park spazieren
Weitere Kostenlose Bücher