Lustvolles Erwachen
können, dass es das aufgeräumteste, ordentlichste Land war, das sie je gesehen hatte.
Doch es war nicht der richtige Moment, um einfach nur aus dem Fenster zu blicken. Wenn sie das tat, blieb ihr viel zu viel Zeit, darüber nachzudenken, was gerade passiert war. Und darüber, was noch passieren würde.
Plötzlich spürte sie Diccans letzten Kuss wieder auf ihren Lippen. Wie überraschend sanft seine Lippen gewesen waren, wie glatt seine Wange und wie rau sein Daumen. Wie der Drang, sich an ihn zu schmiegen, sie fast überwältigt hatte, wie gefesselt sie von dem starken, faszinierenden Körper an ihrem gewesen war, von der Hitze, die seine Haut abstrahlte.
Wusste er nicht, wie sehr er sie quälte, indem er den Vollzug ihrer Ehe aufschob? Wusste er nicht, wie viel Angst sie hatte? Wie aufgeregt sie war? Wie hoffnungsvoll? Sie wusste theoretisch, was geschehen würde. Sie konnte es in Hindi, auf Portugiesisch, auf Französisch, Latein, Spanisch, Urdu und in der Sprache der Cree erklären. Sie wusste, was wohin musste. Da sie sich so lange um Soldaten gekümmert hatte, wusste sie auch, wie das »was« aussah. Sie wusste sogar, wie die Männer es nannten, wenn sie nicht ahnten, dass sie von einer Frau belauscht wurden.
Schwanz. Rute. Dolch. Riemen. Bajonett. John Thomas. Einige Männer waren sogar so eigenwillig, dass sie das Ding ansprachen, als würden sie sich mit ihm unterhalten. Ihr Lieblingsausdruck stammte von einem Sergeant im Regiment ihres Vaters. Ohne zu wissen, dass sie zuhörte, hatte er zugegeben, sein Ding Mr. Gurke zu nennen. Wie soll ein Mädchen das alles ernst nehmen, hatte sie sich damals gefragt.
Als sie Diccan erblickt hatte, hatte sie es ernst genommen. Als sie sein Bajonett aufgerichtet und stramm und pulsierend gesehen hatte. Sie hatte immer geglaubt, dass die Phalluszeichnungen in den Tempeln zu einem gewissen Grad übertrieben gewesen wären – ähnlich wie die Altersangaben in der Bibel oder die Stärke von irischen Helden. Nachdem sie Diccan gesehen hatte, musste sie zugeben, dass sie sich geirrt hatte. Der bloße Gedanke daran jagte ihr wieder einen Schauer über den Rücken. Es juckte sie in den Fingern, ihn zu berühren und herauszufinden, ob er so unerklärlich war, wie er aussah. So weich und hart.
Obwohl sie es nicht wollte, wurde ihr heiß. Sie rang den plötzlichen Wunsch nieder, sich zu bewegen, als könnte sie damit das begehrliche Gefühl lindern, das sich zwischen ihren Schenkeln ausgebreitet hatte. Ihre Haut schien zu spannen, und ihre Brüste, ihre kleinen praktischen Brüste, kribbelten und sehnten sich nach einer Berührung. Sie war ruhelos und ungeduldig und angespannt. Sie nahm einen unbekannten Geschmack auf ihrer Zunge wahr und identifizierte ihn als den der Erwartung.
Sie wusste, wie sie Abhilfe schaffen konnte. Ihre Freundin Ghitika hatte es ihr eines Tages in Indien gezeigt. Über die unverständliche britische Zurückhaltung lachend, hatte das indische Mädchen die Tempelkunst benutzt, um zu erklären, wie man diese … Spannung abbauen, wie man den Hunger stillen konnte. Aber ganz sicher nicht in einer fahrenden Kutsche, mit einem Zeugen, dachte Grace.
Abrupt verlagerte sie das Gewicht auf dem Sitz. Das half nicht. Sie brauchte Ablenkung.
Listen. Sie musste Listen erstellen. Es war immer ihre Aufgabe gewesen, dafür zu sorgen, dass ihr Vater ein gemütliches Feldlager hatte. Sie würde das hier als einen weiteren Schritt betrachten. Ein neues haveli in Indien. Ein Bauernhaus in Portugal. Der Unterschied wäre lediglich, dass sie es nicht für ihren Vater, sondern für ihren Ehemann planen würde. Für ihren Ehemann, der überraschend raue Hände hatte und einen Mund, der zaubern konnte. Für ihren Ehemann, der eine Tür aufgestoßen hatte, von der sie schon lange geglaubt hatte, dass sie für immer verschlossen wäre: die Möglichkeit, ein Zuhause zu haben. Eine Familie. Ein Leben, das sich nicht länger am Rande abspielte, sondern mittendrin und tief im Innersten.
Angestellte , dachte sie und durchwühlte hektisch ihre Damenhandtasche nach einem Block und einem Stift. Sie würde Angestellte brauchen. Breege und Sean natürlich. Sean war immer da gewesen – zuerst als Offiziersbursche für ihren Vater und dann, nachdem er durch eine verirrte Kanonenkugel sein Bein verloren hatte, als »Mann für alle Fälle« und Grace’ guter Freund. Breege war später dazugekommen. Doch es war Breege gewesen, die ihr die Grundlagen guter Haushaltsführung beigebracht
Weitere Kostenlose Bücher