Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
Mörder nichts über den wahren Hintergrund seines
Auftrages wusste. Damit war Bens erstes Täterprofil weitestgehend
hinfällig. Er musste ein neues erstellen. Nun ging es um den
Auftraggeber, den Hintermann, womöglich eine feindliche Organisation.
Ben zog eine Grimasse, denn wie er wusste, blieb die Frage nach
möglichen Hintermännern in der Regel ungeklärt, selbst wenn man die
Attentäter dingfest machte. Wenn das Lux Domini Menschen wie
Darius, Isabella, Sylvester oder Benelli hervorbrachte, um sie für den
Schutz des Papstes einzusetzen, dann war es unwahrscheinlich, dass der
Orden hinter den Morden stand. Wer also konnte ein Motiv haben, das
Oberhaupt der katholischen Kirche ausgerechnet auf eine solch bizarre
Weise zu schwächen oder gar zu töten? In jedem Fall musste es jemand
sein, der über LUKAS, sofern LUKAS etwas mit der Sache zu tun hatte,
sehr detailliert Bescheid wusste. Also doch ein Mitglied des Lux?
Ben merkte, wie die Erschöpfung ihn mehr und mehr übermannte. Seine
Gedanken wurden unklarer, lösten sich auf wie Badesalz in heißem
Wasser. Er brauchte nun wirklich dringend Ruhe. Er brauchte Schlaf.
Doch als er die Augen schloss und versuchte einzuschlafen, grübelte sein Gehirn einfach weiter. Mit einem Mal war er wieder bei der Frage, was
der Fremde, der ihn mit der Wahrheitsdroge gemartert hatte, in der Villa von Kardinal Benelli gesucht hatte.
Am Ende war es Ben so erschienen, als sei der Fremde über die
entfernten Unterlagen aus dem Aktenschrank und den gestohlenen
Rechner genauso verwundert gewesen wie er. Immerhin hatte Ben
inzwischen von Ciban erfahren, dass dieser von Gasperetti über seine
missliche Lage im Verlies der Villa erfahren hatte. Angeblich war das
Ganze ein Versehen, weil man Ben für einen Einbrecher gehalten hatte.
Dass der Lux-Agent selbst ein Einbrecher gewesen war, schien
niemanden zu interessieren.
Ben hielt die Augen weiterhin geschlossen, atmete in gleichmäßigen
Zügen und versuchte sich zu entspannen. Irgendwann schlief er
schließlich doch noch ein, mit dem Gedanken, dass er so bald wie
möglich mit Ciban sprechen musste. Schuldgefühle hin oder her, der
Präfekt schuldete ihm einige Erklärungen.
37.
Westbengalen, Kalkutta
Orden der Missionarinnen der Nächstenliebe,
Shanti Nagar
Die fingerlosen Hände eines verstümmelten Mannes streckten sich
Schwester Silvia entgegen. Täglich schleppten sich Leprakranke in die
Kolonie, die von ihren Ehepartnern verlassen oder von ihrer
Dorfgemeinschaft ausgegrenzt worden waren. Noch heute gab es viele
Menschen in Indien, die dachten, die Krankheit sei die Folge eines
Fluchs und deshalb unheilbar. Tatsächlich aber war Lepra eine
Infektionskrankheit und konnte mit Hilfe moderner Medikamente
gestoppt und geheilt werden, sofern keine Abwehrreaktion des
Immunsystems mit Lepra-Antikörpern erfolgte, die noch Jahrzehnte nach
der Heilung Nervenentzündungen hervorrufen konnte.
Schwester Silvia stammte aus dem irischen Rathfarnham, einem
südwestlich gelegenen Vorort von Dublin, wo sich das Mutterhaus der
Schwestern von Loreto befand. Dort war auch Mutter Teresa auf ihre
Mission in Kalkutta vorbereitet worden. Inzwischen arbeitete Schwester
Silvia seit über einem Vierteljahrhundert in »Shanti Nagar«, der »Stadt
des Friedens«, wie die Lepra-Kolonie hieß.
Im Gegensatz zu einigen ihrer europäischen Mitschwestern hatte ihre
erste Begegnung mit Indien, der Lärm, der Dreck, der Gestank, das
Elend und das Chaos auf den Straßen, kein blankes Entsetzen oder das
Bild eines Monsters in ihr hervorgerufen. Sie hatte Kalkutta und die
Andersartigkeit der Einheimischen von Anfang an gemocht, das
pulsierende Leben hinter dem Elend, die Unkompliziertheit, die
Fröhlichkeit.
Schwester Silvia berührte den verstümmelten Mann und half ihm mit
einem ermutigenden Lächeln vorsichtig auf. Wahrscheinlich hatte er die
halbe Nacht am Eingang der Kolonie gewartet. Vorsichtig führte sie ihn
zur Krankenstation, wo eine ihrer Kolleginnen den Mann übernahm.
Erschöpft und erleichtert ließ der Lepra-Kranke sich auf einer der Liegen nieder, und Schwester Silvia kehrte zum Eingangstor zurück, um
weiteren Patienten in die Kolonie zu helfen.
Wie die Irin wusste, begann die Lepra meist harmlos, mit einer
Verfärbung der Haut, einem gefühllosen Flecken. Nur selten erkannten
die Infizierten das erste Anzeichen der Krankheit, oder sie hielten es
geheim. Die meisten Betroffenen kamen
Weitere Kostenlose Bücher